Skip to main content
Fatima El-Tayeb

Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft

Bielefeld: transcript Verlag 2016; 252 S.; 19,99 €; ISBN 978-3-8376-3074-9
Wäre die deutsche Gesellschaft tatsächlich postmigrantisch, dann würde das jenseits von Multikulturalitätsrhetoriken dominierende „eklatante Weißsein“ (23) nicht weiterhin eine echte Integration des Anderen verunmöglichen. Wo also steht die deutsche Identität heute, in einer Welt, in der die einzige Stabilität darin zu bestehen scheint, dass Stabilitäten und Gewissheiten immer und immer wieder ausgehebelt werden? Fatima El‑Tayeb zeigt in ihrer Studie für die Zeit ab 1989, dass wesentliche Teile deutscher Identität mit einer Konstruktion von Fremdheit einhergehen, die in Krisensituationen immer wieder erneuert beziehungsweise angepasst wird. Seit der Wiedervereinigung habe ein „stabiles Aggressionslevel rassistische Gewalt normalisiert“ (208) – angefangen von Brandanschlägen, Hetzjagden und Morden (insbesondere sei an die beispiellose, über Jahre unentdeckte Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds erinnert), inklusive der dazugehörigen Trauer‑ und Erinnerungsrituale, bis hin zur Übernahme von ursprünglich rechtsradikalen Flut‑ oder Bootmetaphern in der Berichterstattung der etablierten Medien über die ankommenden Flüchtlinge. Zementiert in dieser gesamten Gemengelage war nur eines: die Vorstellung der Andersartigkeit des Ausländers als konstitutiv nicht‑deutsch. Diesem gegenüber steht der sprichwörtlich besorgte Bürger, der um den Fortbestand von Freiheit und Sicherheit in seiner Heimat bangt. Dass es Nicht‑Deutschen, hier lebenden Personen – was Sicherheit und Freiheit anbelangt – ähnlich gehen könnte, vermag er nicht zu erkennen. Und so greift, auch in anderen europäischen Staaten und in den USA, immer mehr ein Klima der Angst um sich, das Sündenböcke ebenso notwendig und politisch erfolgreich zu produzieren und zu instrumentalisieren vermag, verbunden mit, aller Globalisierung zum Trotz, einem Rückzug ins Nationale. Das allerdings, und dieser Umstand muss ebenso Teil einer kritischen Gegenwartsdiagnose sein, gelingt nicht immer. Zwar stimmt die Beobachtung, dass Jérôme Boatengs deutsche Staatsbürgerschaft ihn nicht davor hat schützen können, zur Zielscheibe der faschistoiden Ressentiments der AfD und Alexander Gaulands Nachbarschaftsbefürchtungen zu werden. Die breiten Solidaritätsbekundungen zugunsten von Boateng, selbst wenn sie vor derselben Unterscheidungslogik operieren, lassen zumindest erahnen, dass deutsche Identität mehr sein könnte als bloße Ausschließung. Noch wesentlich beunruhigender, allzumal aus normativ‑demokratischer Perspektive, ist jedoch diese Diagnose: Die Mehrheit der Bürger_innen, so El‑Tayeb, verharre „komfortabel in ihrer Ignoranz, struktureller Rassismus wird negiert oder beschönigt und gleichzeitig steigt die gesellschaftliche Gewalt stetig an“ (210). – Es ist ein überaus wichtiges Buch.
{LEM}
Rubrizierung: 2.352.37 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Fatima El-Tayeb: Undeutsch. Bielefeld: 2016, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/40175-undeutsch_48266, veröffentlicht am 08.12.2016. Buch-Nr.: 48266 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken