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Stephanie Schütze: Transnationale politische Räume. Arenen des politischen Engagements mexikanischer Migrant/innen zwischen Mexiko und den USA

04.09.2018
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Autorenprofil
Natalie Wohlleben, Dipl.-Politologin
Berlin, edition tranvía / Verlag Walter Frey 2018 (Fragmentierte Moderne in Lateinamerika)

Die oft genug von Hysterie und/oder Polemik geprägte öffentliche Debatte in den westlichen Industrienationen darüber, ob und welcher Umfang von Zuwanderung von Menschen aus anderen Ländern zu „verkraften“ wäre, verstellt immer wieder den Blick darauf, welcher Gewinn Migration sowohl für die/den Einzelne(n) als auch für die Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften sein kann – sei es bei der persönlichen Entfaltung vor allem auch dadurch, dass man eine bezahlte Arbeit findet, mit der sich ein abgesichertes Leben erreichen lässt, einschließlich Gesundheitsversorgung und Bildung für die Kinder, sei es durch die Überweisungen an die Verwandten in der alten und durch die Übernahme von Jobs in der neuen Heimat, für die dringend Arbeitskräfte gesucht werden. Schon für die Bundesrepublik, die sich über Jahrzehnte dezidiert nicht als Einwanderungsland verstanden hat, sind die Benefits unübersehbar (einschließlich der Bereicherung durch unter anderem die italienische und türkische Küche). Für die USA, das Einwanderungsland par excellence, gilt dies umso mehr – eine Tatsache, die im derzeit von US-Präsident Donald Trump geführten Diskurs völlig in den Hintergrund getreten scheint. Von seinen Wahlkampfaussagen, in denen er die Mexikaner pauschal verunglimpfte, ist er nie abgerückt. Das Buch von Stephanie Schütze, Professorin (auf Zeit) für Kultur- und Sozialanthropologie am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, das bereits 2016 auf Englisch erschienen ist und nun auch in einer deutschen Fassung vorliegt, dreht diese von Trump völlig verzerrte Perspektive zurück auf die Realität.

Schütze geht es dabei nicht um die Geschichte der Migration von Mexiko in die USA im Grundsätzlichen. Ihre Fragestellung zielt darauf, was mit den Menschen und ihren beiden Ländern durch die Migration und ihre Folgen passiert: Es entstehen, so zeigt sie, transnationale Räume, die mexikanische Migrant*innen durch ihr politisches Engagement hervorgerufen haben. Um diese Räume zu vermessen, hat Schütze, wie sie in ihrem Buch erzählt, über mehrere Jahre in Chicago, einem Zentrum dieses Engagements, und im Bundesstaat Michoacán, aus dem viele der Chicagoer Mexikaner*innen stammen, Feldstudien unternommen, Interviews geführt und an Festen wie politischen Veranstaltungen beobachtend teilgenommen. So entsteht das dichte Bild eines Engagements, das sich spontan entwickelte, dann organisatorisch gefasst und schließlich politisch wirkungsvoll geworden ist. Dabei steht am Anfang der Kampf der ausgewanderten Mexikaner*innen um Anerkennung: Ihre Überweisungen an Verwandte daheim machen schon lange den zweitwichtigsten Faktor in der mexikanischen Wirtschaft aus. Der Weg aber zur Änderung des Wahlrechts, mit der ihnen eine – mit Blick auf ihre wirtschaftliche Leistung angemessene – politische Mitbestimmung eingeräumt wurde, war lang und erst möglich, als die Macht der Jahrzehnte regierenden Partido Revolucionario Institucional (PRI), die von 1929 bis 2000 das politische System dominierte, zu bröckeln begann. 2006 durften die im Ausland lebenden Mexikaner*innen sich zum ersten Mal an einer Präsidentenwahl in Mexiko beteiligen.

Die PRI gründete ebenso wie andere mexikanische Parteien Ableger auch in Chicago, um die ausgewanderten Mexikaner*innen an sich zu binden. Schütze stellte bei ihren Forschungen aber fest, dass diese Ortsgruppen keineswegs im Zentrum der transnationalen politischen Räume stehen, obwohl einzelne Politiker sogar in beiden Ländern aktiv sind. So unterstützte beispielsweise der „mexikanischstämmige US-Senator Martín Sandoval von Illinois […] die Kampagne für die PRD [Partido de la Revolutión Democrática] in seinem mexikanischen Herkunftsbundesstaat Guerrero“ (268).

Im Mittelpunkt stehen vielmehr lokale Clubs und deren Dachorganisation, die als echte Graswurzelbewegung entstanden sind: Diejenigen, die von Chicago aus Geld spenden, zum Beispiel für die Anschaffung eines Schulbusses in ihrer Herkunftsgemeinde, schlossen sich zusammen, um mit den dortigen politischen Vertretern über die konkrete Verwendung ihrer Spende verhandeln zu können. Schütze zeigt, welche Konsultations- und Finanzierungsmechanismen sich so etablieren konnten: Kann ein Club in Chicago eine gewisse Summe für ein Projekt, das der Unterstützung bedarf, zur Verfügung stellen, finanziert es der mexikanische Staat im Rahmen des im Jahr 2002 speziell dafür aufgelegten Programa 3x1 gegen – sofern man sich einig ist (und nicht der Vertreter einer „falschen“ Partei gerade das Sagen hat – klientilistische Zustände sind im Mexiko nach wie vor tief verankert). Außerdem können ausgewanderte Mexikaner*innen als consejeros (Ratsmitglieder) am Instituto de los Mexicanos en el Exteroir (IME) mit der mexikanischen Regierung kommunizieren und diese beraten.

Schütze kann anhand der Beobachtung dieser Aushandlungsprozesse in den „unterschiedlichen Interaktions- und Kommunikationsarenen“ (277), die miteinander verknüpft den transnationalen politischen Raum bilden, aufzeigen, welches Gewicht die Stimmen der Ausgewanderten gewonnen hat, die sich weiterhin um ihr Herkunftsdorf kümmern und vor allem in die Bildung der Kinder investieren (auch, damit diese später nicht aus Armut gezwungen sind zu migrieren). Dabei zeigen sich in den Interviews durchaus geschlechterspezifische Unterschiede: Männer engagieren sich vor dem Hintergrund der nach wie vor wirksamen klassischen Rollenverteilung häufiger als Frauen und nutzen ihr Engagement vor allem auch, um ihren sozialen Status zu erhöhen. Bei den Frauen konnte Schütze dieses Motiv nicht erkennen, auch liege deren Fokus verstärkt auf sozialer Hilfe, weniger auf politischer Teilhabe. Dennoch ist herauszulesen, dass Männer wie Frauen durch die Erfahrung der Migration, gekoppelt an die Übernahme von Verantwortung für die alte Heimat, ein politisches Bewusstsein und eine Stimme für ihre Belange entwickeln. Vor diesem Hintergrund und auf eine Reform des Einwanderungsgesetzes hoffend, unterstützten denn auch viele in Chicago lebende Mexikaner*innen die Bewerbung Barack Obamas um die Präsidentschaft, einige waren als Wahlkampfhelfer*innen aktiv.

Aber es bleibt weiter für viele ein Traum, auf der Suche nach Arbeit oder einer akzeptablen Gesundheitsversorgung (auch das kann ein Grund sein, wie Schütze am Beispiel einer Familie mit einem kranken Kind zeigt) nicht (notfalls illegal) migrieren zu müssen. Angesichts des demografischen Wandels in den USA – der Bevölkerungsanteil der aus Lateinamerika stammenden Menschen wächst – sind in der Zukunft tatsächlich (wieder) Wahlergebnisse denkbar, die eine menschliche Einwanderungspolitik zulassen. Die Strukturen auf lokaler Ebene, die eine Integration begünstigen, sind auf jeden Fall längst geschaffen, wie Schütze zeigt. Zum Abschluss sollte allerdings nicht verschwiegen werden, dass zwar ein zum Nachdenken anregender Ansatz verfolgt wird und die Interviews in Chicago und Michoacán einen lebensnahen Einblick in die Welt der ausgewanderten Mexikaner*innen zulassen, das Buch selbst aber durch einen sehr umständlichen, wenig flüssigen Schreibstil und zu viele Wiederholungen keine Lesefreude bereitet.

 

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