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Polarisierung und Desinformation. Was muss eine Demokratie aushalten?

09.06.2020
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Dr. rer. pol. Wahied Wahdat-Hagh

FragezeichenFake News, Verschwörung und Manipulation durch digitale Medien erschweren eine unabhängige Suche nach Wahrheit. Foto: Pete Linforth / Pixabay

 

Wie steht es um die Zukunft der Demokratie, wie wird Demokratie destabilisiert und was muss sie aushalten? Gibt es überhaupt Wahrheit und Unabhängigkeit? Mit diesen Fragen beschäftigen sich aus unterschiedlichen Perspektiven Peter Pomerantsev, der am Institute of Global Affairs an der London School of Economics forscht, und Rahel Süß, die unter anderem an der Universität Wien politische Theorie lehrt. Beide machen sich Gedanken über die Gegenwart und Zukunft der Demokratie und bieten sich ergänzende Einsichten und Denkanstöße.

Peter Pomerantsev hat sich mit der Rolle der Propagandamedien von Diktaturen auseinandergesetzt und bietet mit seinem Buch eine Reportage über die Manipulation von Informationen durch digitale Medien und neue Technologien. Im digitalen Zeitalter seien die Feinde unsichtbar und anonym geworden. Sie befinden sich überall und nirgends. Man könne gegen einen „Online-Mob“ (39) nicht kämpfen, da er nicht real sei. Cyber-Milizen und Social-Media-Mobs treten als vermeintliche Privatpersonen auf und lassen das Internet durch gezielte Desinformation zu einem gefährlichen Ort werden. Eine unabhängige Suche nach Wahrheit werde dadurch erschwert.

Für Pomerantsev geht es bei diesen Prozessen um die Herstellung neuer Machtverhältnisse. Er beruft sich unter anderem auf eine Wissenschaftlerin der Harvard-Universität, die über Cyber-Kriegsführung forscht und zu der Erkenntnis gelangt ist, dass es eine „neue Version der alten Auseinandersetzung zwischen Macht und Dissens, Redefreiheit und Zensur“ (51) gibt. Während bisher Diktaturen Menschen daran gehindert haben, Informationen zu erhalten, gebe es heute neue Methoden, abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen. Als ein Beispiel nennt der Autor Venezuela. Dort habe es unter der Regierung von Nicolás Maduro staatlich gelenkte Kampagnen in sozialen Medien gegeben. Die Regierung habe ihren Anhängern in geschlossenen Kanälen im Internet mitgeteilt, wen sie wann attackieren sollten. In den USA gebe es ebenfalls staatlich inspirierte Kampagnen, in denen das „Social-Media-Team des Weißen Hauses, aber auch Websites, die den Präsidenten unterstützen, […] Journalisten, Akademiker und Oppositionelle“ (54) beschimpft hätten. Staatlich finanzierte Trolle werden benutzt, um die Menschenrechte zu unterdrücken. Heute verhindern Regierungen nicht nur Informationen, sondern missbrauchen den Informationsüberfluss. Derartige Praktiken veranlassten das Freedom House mit Sitz in Washington zu der Feststellung, dass Fake News und aggressives Trolling von Journalisten die Bewertung der Pressefreiheit verschlechtern können. Das Freedom House war 1941 gegründet worden, um gegen totalitäre Diktaturen aktiv zu werden.

Pomerantsev artikuliert das Ideal einer gerechten Gesellschaft, in der alle Großmächte und Digitalunternehmen versprechen, „online die Menschenrechte zu achten“ (56). Theoretisch sollten uns die neuen Medien weiter in die Zukunft führen, „haben uns stattdessen aber die Vergangenheit zurückgebracht“ (57). Als Beispiel nennt der Autor die Frauenfeindlichkeit, die seiner Meinung nach zwischenzeitlich als nahezu überwunden schien und derzeit in den sozialen Medien verstärkt zu finden sei.

Zudem setzt sich Pomerantsev mit der Rolle von Verschwörungen auseinander und führt aus, dass Verschwörungstheorien eine uralte Strategie der Machterhaltung seien. Während in der Vergangenheit die sowjetische Führung überall kapitalistische und konterrevolutionäre Machenschaften vermutet habe, wurden in der Zeit des Nationalsozialismus jüdische Verschwörungen angenommen. Die Verschwörungstheorien verfolgten stets den Zweck, die herrschende Ideologie zu stützen. Gegenwärtig erscheinen sie anders: „Für heutige Regime, denen es schwerfällt, eine kohärente Ideologie zu formulieren, […] wird die Vorstellung, in einer Welt voller Verschwörungen zu leben, selbst zur Weltanschauung.“ (81)

Eine sehr kritische Haltung nimmt der Autor gegenüber den Propagandamethoden in Russland ein. Dort gehe man davon aus, dass die ganze Welt gegen Russland eingestellt sei. Diese Vorstellung biete den Vorteil, dass die Regierenden für ihr eigenes Versagen nicht mehr die alleinige Verantwortung zu tragen haben. Indem überall ein Komplott vermutet werde, sei die Situation leichter zu ertragen Vor solch neuen Ersatzrealitäten warnt Pomerantsev. Trolle, Bots und Cyborgs würden „ein Meinungsklima von Zustimmung oder Hass simulieren, das heimtückischer und umfassender“ (94) sei, als die klassischen Medien Radio und Fernsehen.

Mit Bezugnahme auf russische Literatur zum Thema informationspsychologische Kriegsoperationen, konstatiert er, dass der heutige „Informationskrieg“ (121) den Kalten Krieg ersetzt habe. Die Information sei zu einer Waffe geworden. Es gebe Informationskrieger und Informationswaffen. Dabei erscheint ihm der Informationskrieg mehr als bloß ein außenpolitisches Instrument. Diese Kriegsform habe sich als „Quasi-Ideologie, als Weltanschauung“ (122) entpuppt.

Ende der 1990er-Jahre und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts haben ehemalige sowjetische Geheimdienstler, die zwischenzeitlich an Universitäten einen neuen Arbeitsplatz gefunden hatten, Verschwörungstheorien verbreitet, wonach westliche „Informationsviren“ (123), die als trojanische Pferde Redefreiheit und Wirtschaftsreformen propagierten, den Kollaps des Sowjetimperiums verursacht hätten. Information sei zu einem Element eines Krieges geworden. Der Traum einer „demokratischen Partizipation“ (127) in einem freien Informationsraum, in dem Wissen frei schwebe und die Demokratie stärke, sei bereits geplatzt. Neue Kriegsformen seien kontaktlos und das menschliche Bewusstsein längst zu einem Schlachtfeld der permanenten Kriegsführung geworden. Die vom Kreml verbreiteten Märchen sollten zeigen, dass der Wunsch nach Freiheit nicht zu Frieden und Wohlstand führe und nicht mehr sei als ein Relikt der Logik des Kalten Krieges. Das habe man der Welt am Beispiel der Ukraine bewiesen – ein Land, das bluten, aber keinen Frieden finden sollte.

Der Autor fragt nach dem Stellenwert von Fakten in der Politik. Diktaturen tendierten dazu, die Realität zu unterdrücken und es sei auch nicht neu, dass Politiker es mit der Wahrheit nicht immer genau nehmen. Neu sei aber, dass diese „mit ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit angeben“ (171) würden. Wenn Putin behaupte, dass es keine russischen Soldaten auf der Krim gebe, habe er zeigen wollen, dass Tatsachen nebensächlich seien. Und auch in den USA steht „die Unparteilichkeit unter Beschuss“ (175). Beispielsweise verteidige der Prime-Time-Moderator Sean Hannity von Fox News Donald Trump ähnlich wie Moderatoren des russischen Staatsfernsehens Wladimir Putin bejubelten. Und da die Objektivität von Sendern wie BBC und CBS ebenfalls infrage gestellt wird, gebe es Online-Faktencheckagenturen. Allerdings stehen diese Agenturen vor dem Problem, dass sich mit der Technologie der sozialen Medien „Lügen und Fälschungen schneller verbreiten als Fakten“ (177). Soziale Medien verstärken polarisiertes Verhalten und seien wie „Narzissmusmaschinen“, (180) die durch Likes und Retweets emotionale Stärkung vermitteln.

Heißt dies nun, dass es keine Wahrheiten mehr gibt, weil die Technologien der sozialen Medien dazu beitragen, dass die Unantastbarkeit von Tatsachen untergraben wird? Mitnichten. Der Autor geht auf das Videomaterial eines jungen Syrers ein, dessen Aufnahmen in einem Dokumentarfilm über die Weißhelme verwendet wurden. Dieser Dokumentarfilm erhielt 2017 einen Oscar. Gegenwärtig gibt es in der Tat mehr Material über Folter, Massenmord und Kriegsverbrechen als je zuvor. „Es wartet nur darauf, dass Fakten Bedeutung beigemessen wird.“ (199)

Es sei ein Alptraum, wenn unsere Daten mehr über uns ‚wissen‘ als wir selbst und wenn diese dann benutzt werden, „um uns ohne unser Wissen zu beeinflussen“ (256). Wenn Bots, Cyborgs und Trolle absichtlich ihre Identität verschleiern, wenn Cyber-Milizen als Teil von koordinierten Kampagnen Fake-Konten errichten und falsche Nachrichten verbreiten, stellt sich die Frage, ob man nicht das Recht verliert zu wissen, „ob etwas, das authentisch wirkt, in Wirklichkeit fabriziert ist?“ (260) Desinformation und Manipulation können faktisch die demokratischen Freiheiten gefährden.

Eine perspektivisch anders gelagerte Reflexion dieser Phänomene und Einsichten bietet Rahel Süß. In ihrer theoretischen Abhandlung wirft sie viele Fragen über die Krise der Demokratie auf, die sie entschieden beantwortet. Verschiedene Krisenszenarien der Demokratie werden beschrieben: die Krise eines reaktionären Nationalismus, die Krise der Manipulation der demokratischen Wahlen durch digitale Technologien und die Krise der Macht transnationaler Konzerne auf Gesetzgebungsprozesse.

Der Einsatz von Technik bedrohe die Demokratie, indem eine „lückenlose Überwachung“ (9) ermöglicht werde. Zwar verspreche die Technik eine demokratische Partizipation, tatsächlich werden aber die gegenwärtigen liberalen Demokratien von „autoritären Gruppen ausgehöhlt“ (10). Die Autorin schlägt vor, „das Problem der Zukunft im Kontext von Demokratie neu zu situieren“ (14). Der Eindruck täusche, dass die Zukunft unter dem Deckmantel der Demokratie gut aufgehoben sei. Nicht alle haben in gleicher Weise einen Zugang zu einer offenen Zukunft. Dafür biete die liberale Demokratie nur formale Möglichkeiten. Die Autorin hebt die Situation der ethnischen und sexuellen Minderheiten hervor, deren Grundrechte beschnitten werden. Für diese Gruppen sei es um das demokratische Versprechen einer offenen Zukunft schlecht bestellt.

Süß geht davon aus, dass die liberalen Demokratien nicht in der Lage seien, ihre demokratischen Versprechen einzulösen, vielmehr würden die versprochene individuelle Selbstverwirklichung und Freiheit im Konsum aufgehen. Das Versprechen der Solidarität sei allenfalls im Rahmen einer nationalen Gemeinschaft möglich. Soziale Probleme, wie Wohnungsmangel, würden als private Angelegenheit betrachtet werden. Der Wert der Gleichheit weiche einem digitalen Partizipationsversprechen. Digital könnte jeder alles posten, liken und kommentieren, das Partizipationsversprechen bleibe jedoch eine „Fiktion“ (21). Die sozialen Beziehungen hätten sich zu „Daten-Beziehungen“ (22) reduziert. Die digitalen Infrastrukturen von Plattformen diktierten, was die Bürger*innen, die zur Statistik degradiert würden, zu tun haben. In der Gesamtheit ergebe sich ein düsteres Bild einer Demokratie. Weder die Marktfreiheit noch digitale Technologien böten „per se eine Lösung für unser demokratisches Unbehagen“ (25) an.

Wie kann Demokratie erneuert werden? Hierfür seien laut Süß Experimente und Philosophie erforderlich. Aktuelle Demokratie-Experimente zeigten, dass selbst unter „Bedingungen tiefgreifender gesellschaftlicher Wertekonflikte und großer Unsicherheit ein wechselseitiges Verständnis möglich“ (39) sei. Bei einem demokratischen Wandel müsse aber die Frage beantwortet werden, wie digitale Technologien benutzt werden sollen. In einer solchen Debatte müsse sich Demokratie, wie der zivile Ungehorsam, als provokant erweisen. Die Demokratie werde durch eine „Politik ohne Provokation“ (62) gefährdet.

Rahel Süß hat auf 62 Seiten, die im Querformat gestaltet sind, mit jeweils 18 Zeilen ein Manifest der Provokation verfasst, das – teilweise apodiktisch formuliert – durchaus lesenswert ist.

 

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