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Britta Grell / Christian Lammert

Sozialpolitik in den USA. Eine Einführung

Wiesbaden: Springer VS 2013 (Lehrbuch); 303 S.; 29,95 €; ISBN 978-3-531-18133-2
Der Wohlfahrtsstaat wird gerne als unamerikanisch geschmäht, pflegt man doch eine lange Tradition von Eigenverantwortung und Freiheit vor staatlichen Eingriffen. Arbeitslose und Arme werden moralisch rigoros „oftmals für ihre Situation selbst verantwortlich gemacht“. Auch gaben in einer Umfrage, die Britta Grell und Christian Lammert zitieren, die Hälfte der befragten älteren Menschen an, sie habe „niemals eine wohlfahrtsstaatliche Leistung in Anspruch genommen […], obwohl ihr Haupteinkommen aus der gesetzlichen Rentenversicherung stammt“. Diese Wahrnehmung korrespondiert mit der grundsätzlichen „Geringschätzung von sozialen Rechten“ (58 f.), die die Autoren feststellen – obwohl der US‑amerikanische Wohlfahrtsstaat sich bei genauerer Analyse als groß und teuer entpuppt. Dass er allerdings zugleich als fragmentiert und unterentwickelt zu charakterisieren ist, wie immer wieder als These vertreten wird, stellen Grell und Lammert infrage und erläutern verschiedene mögliche Erklärungsansätze für die Besonderheiten dieses Wohlfahrtsstaates. Hervorgehoben wird der spezifische Mix von staatlichen und an den Arbeitsplatz gebundenen sowie fiskalen Leistungen – die aus europäischer Perspektive nicht unbedingt als solche sofort auffallen. Zum besseren Verständnis erklären Grell und Lammert außerdem die historische Genese der sozialen Leistungen. Deren zum Teil schwache Entwicklung zeigt sich nicht nur begründet in der politischen Kultur der Eigenverantwortung, sondern vor allem auch in dem eher nur losen Zusammenhalt einer sozial heterogenen Gesellschaft, in der der Rassismus deutlich nachwirkt. Mit der Ablehnung eines Ausbaus sozialer Leistungen werde, so zitieren Grell und Lammert verschiedene Autoren, den Afroamerikanern zugleich die volle Integration verwehrt. Nach der äußerst erhellenden Darstellung der Grundlagen des Wohlfahrtsstaates gehen die Autoren auf ausgewählte Felder der Sozialpolitik ein. Es zeigt sich, dass – ähnlich wie Arbeitslosigkeit und Armut – die Familie als persönliche Angelegenheit betrachtet wird: Die USA sind der einzige OECD‑Staat ohne eine bezahlte Elternzeit. Seit Langem engagiert sich der Staat dagegen im Bildungswesen, gilt doch eine gute Ausbildung als wichtigste Basis für ein gelingendes Leben. Allerdings haben sich jüngere Reformen als kontraproduktiv erwiesen. Und überhaupt stellen die Autoren der sozialpolitischen Gegenwart ein schlechtes Zeugnis aus: Neben zunehmend ungerechten Bildungschancen und der strukturellen Massenarbeitslosigkeit, die vielen eine Erwerbstätigkeit und damit die soziale Absicherung verwehrt, bedrohen auch die Arbeitgeber, die sich – nach dem Niedergang der Gewerkschaften – zunehmend aus ihrer sozialen Verantwortung stehlen, den sozialen Frieden.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.64 | 2.1 | 2.262 | 2.263 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Britta Grell / Christian Lammert: Sozialpolitik in den USA. Wiesbaden: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36098-sozialpolitik-in-den-usa_43937, veröffentlicht am 22.08.2013. Buch-Nr.: 43937 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken