Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Mit dem Auftauchen der Piratenpartei ist die Frage einer Renaissance des Sozialliberalismus wieder aktuell geworden. Unabhängig davon hat sich die Friedrich‑Naumann‑Stiftung bereits 2011 auf einer Tagung in Potsdam seinen historischen Grundlagen zugewandt. Die Tagungsbeiträge sind nun in diesem Sammelband zusammengefasst. Das Kernproblem legt Detlef Lehnert in seiner Einleitung offen, wenn er den Sozialliberalismus als „Oberbegriff mehrerer unterscheidbarer Aspekte“ (20) definiert und zwischen einer normativ‑analytischen Kategorie, einer Verbindung zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie sowie einer sozialpolitisch akzentuierten Strömung im Liberalismus unterscheidet. Die Beiträge beziehen mal mehr die eine, mal mehr die andere Perspektive ein. Dadurch tragen sie in Gänze wenig zur Konturierung des Sozialliberalismus‑Begriffes bei. Allerdings entfalten die einzelnen Beiträge mitunter schon ein recht konzises Bild von sozialliberalen Reformvorstellungen während der (Hoch‑)Industrialisierung. Porträts von Friedrich Naumann, Lujo Brentano, Johann Jacoby und Paul Singer sind in diesem Zusammenhang natürlich unvermeidlich. Der Einbezug von Gustav Stresemann hingegen überrascht und die von Karl Heinrich Pohl aufgeworfene These, dieser sei als „überzeugte[r] Sozialliberale[r]“ (159) zu bezeichnen, will auch nicht so recht überzeugen. Dafür illustrieren die beiden Beiträge von Hans‑Georg Fleck über die Gesellschaftsreformen im Kaiserreich und die sozialliberalen Gewerkschaften der hirsch‑dunckerschen Linie die Denk‑ und Vorgehensweise des Sozialliberalismus in Deutschland. In etwas pathetisch‑resignierender Form schlägt Fleck auch den Bogen in die Gegenwart: „Wenn der soziale Liberalismus in unseren Tagen noch irgendwo in der Gesellschaft anzutreffen ist, dann gilt sicher, dass er dort, wo er herkommt, wo man sich […] wenigstens noch gelegentlich der reichen Tradition des deutschen Liberalismus in seiner Vielfalt erinnert, kaum mehr auch nur in homöopathische zu nennender Dosierung nachweisbar ist“ (65). Trotz des im Titel angekündigten Europabezugs fällt die Deutschlandzentrierung des Bandes auf. Die abschließend aufgegriffenen Vergleichsstudien über die Schweiz, Österreich, Skandinavien, Italien und Frankreich runden zwar das Gesamtbild ab, doch es mangelt ein wenig an einer übergreifenden Kontextualisierung, die noch am ehesten bei der Darstellung von Tomáš Masaryk durch Jiři Štaif zum Vorschein kommt.