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Samuel Salzborn: Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne

17.10.2018
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Autorenprofil
Dr. rer. pol. Wahied Wahdat-Hagh
Weinheim, Beltz Juventa 2018

In Anlehnung an Reinhart Kosellecks Revolutionsbegriff entwickelt Samuel Salzborn die These einer weltweiten „antisemitischen Revolution“ (25), die sich mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 manifestiert habe. Damals lenkten Terroristen der Al-Qaida zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York, etwa 3.000 Menschen wurden dabei getötet.

Salzborn schreibt über eine Revolution, die das Ziel einer islamistisch unterworfenen Welt verfolge, in der sämtliche Errungenschaften von Aufklärung, Moderne und Demokratie zerstört werden sollen. Der damit zusammenhängende internationale Terrorismus stelle einen entgrenzten und asymmetrischen Weltkrieg dar. Dieser Krieg sei antisemitisch, da „im islamistischen Weltbild alles, was abgelehnt wird, letztlich jüdisch identifiziert wird“ (26). Es sei ein Krieg, der Identitäre in aller Welt miteinander verbinde, die mal als völkische und mal als islamistische Bewegungen in Erscheinung träten. 9/11 sei der historische Kristallisationspunkt, an dem die Weltordnung infrage gestellt, die Hegemonie der US-amerikanischen Supermacht objektiv gebrochen und die Verwundbarkeit der westlichen Welt sichtbar geworden sei. Dieser Tag sei weltweit zur Mobilisierungsfolie für die Kräfte der Gegenaufklärung geworden. Salzborn schreibt: „Das Banner, unter dem sich diese sammeln, ist – so die Kernthese dieses Buches – das Banner des Antisemitismus.“ (28) Der Prozess der Entstehung einer „antisemitischen Internationale“ (43) habe mit 9/11 ein drittes Mal den Impuls zu einer Neuordnung der Welt erhalten.

Salzborn arbeitet in Anlehnung an Samuel Huntington drei Phasen der Inter- und Transnationalisierung von Antisemitismus heraus. Die erste, lange Welle der Demokratisierung hat demnach zwischen 1828 und 1926 stattgefunden und ihren Ursprung in der Amerikanischen und der Französischen Revolution gehabt. Die autokratische und „antidemokratische Gegenwelle“ (45) wird von 1922 bis 1942 datiert und unter anderem mit den faschistischen und nationalsozialistischen Diktaturen in Italien und Deutschland begründet. Der Antisemitismus sei in dieser Phase völkisch und rassistisch aufgeladen gewesen und habe als eine antisemitische Gemeinschaft die bürgerlich-republikanische Ordnung infrage gestellt. Zur weiteren Untermauerung seiner These lehnt sich Salzborn dabei an Hannah Arendt und Franz L. Neumann.

Huntington setzt die zweite Demokratisierungswelle zwischen den Jahren 1943 und 1962 an. Demokratische Entwicklungen in zahlreichen westeuropäischen Staaten, aber auch in Argentinien, Brasilien, Uruguay sowie Japan und Indien werden zu dieser Phase gerechnet. Die Gegenwelle setzt zwischen den Jahren 1958 bis 1975 ein, auch diese findet in einigen südamerikanischen Staaten oder in Indien, Südkorea und Nigeria statt. Salzborn schreibt: „Im Zentrum dieser antidemokratischen Gegenwelle steht die zweite Bemühung zur transnationalen Organisierung des Antisemitismus als Bindeideologie.“ (47) Dazu gehörten antiimperialistische Ideologien und Bewegungen, die länderübergreifend antisemitisch geprägt gewesen seien. Folgende politische Phänomene werden hinzugezählt: die paramilitärische Ausbildung von linksextremen Terroristen im arabischen Raum oder die logistische und politische Zusammenarbeit von PLO/PFLP mit RAF und RZ in Deutschland, mit der ETA in Spanien, mit der IRA in Großbritannien oder mit den Roten Brigaden in Italien. In diesem Kontext weist Salzborn auf die antisemitische Schuldabwehr im Zusammenhang mit der israelfeindlichen Zielsetzung der antiimperialistischen Bewegungen hin.

Die dritte Demokratisierungswelle hat 1974 begonnen und dauerte bis 1991. Ihr werden die Entwicklungen in Staaten wie Spanien, Portugal oder Griechenland zugeordnet sowie in den osteuropäischen Staaten und den Zerfallsrepubliken der ehemaligen Sowjetunion. In Erweiterung von Huntington datiert Salzborn die Gegenbewegung auf den 11. September 2001. Seitdem würden die westlichen Demokratien aufgrund der Bedrohungen des islamistischen Terrorismus gezwungen, „ihre Freiheitsrechte zugunsten der inneren und äußeren Sicherheit einzuschränken, was ein internes Entdemokratisierungspotenzial für die demokratisch verfassten Staaten beinhaltet.“ (48) Zugleich seien autoritäre Gegenbewegungen zu beobachten: Russland habe sich zu einem autoritären Staat gewandelt und in Ungarn verlaufe der Transformationsprozess in Richtung einer völkischen Diktatur. Die sogenannte Arabellion der Jahre 2010/2011 sei letztlich der Siegeszug islamistischer Gruppierungen gewesen und als autoritärer backlash von islamistisch-totalitären Regimen zu bewerten.

Diese dritte antidemokratische Gegenwelle wird als die dritte antisemitische Revolution beschrieben. Die Initiatoren dieser antidemokratischen Gegenwelle seien radikale Islamisten, die sich auf islamische Quellen bezögen, diese radikalisierten und politisierten. Vor diesem Hintergrund spricht Salzborn nicht nur vom islamistischen, sondern vom islamischen Antisemitismus. Dieser islamische Antisemitismus sei grenzüberschreitend und transnational und der „dritte Versuch einer transnationalen Durchsetzung des Antisemitismus als weltpolitischer Bewegung – nachdem der Nationalsozialismus die erste und der Linksterrorismus die zweite soziale Bewegung mit dieser Zielsetzung gewesen ist“ (49). Der islamische Antisemitismus sei die dritte supranationale Bewegung.

Salzborn geht davon aus, dass die dritte antisemitische Internationale „bekämpft und niedergeschlagen“ (55) werden kann – schreibt er doch von der „Illusion einer islamistischen Herrschaft“ (56). Allerdings geht er nicht auf das totalitäre islamistische Herrschaftssystem im Iran ein, das sich seit 1979 etabliert hat.

Den Anspruch der Linken, dass ihre Ideen mit Antisemitismus unvereinbar seien, weist Salzborn zurück. Die linken Organisationen, die heute Antisemitismus und Israelhass verbreiteten, propagierten ein völkisches Weltbild des Antiimperialismus, das „von ethnisch-kollektiven Homogenitätsvorstellungen geprägt“ (84) sei. Zu den verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus zähle zum Beispiel die antisemitische Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS): Die Reaktivierung der Nazi-Parole „Kauft nicht bei Juden“ (152), die auf den Staat Israel übertragen wird, wird zu Recht als ein antiisraelischer Antisemitismus dargestellt. Insgesamt kulminierten die Verbindungslinien zwischen rechtem, linkem und islamischem Antisemitismus in der „gemeinsamen Vorstellung einer grundsätzlichen Ablehnung von Aufklärung und Liberalismus“ (139).

Mit seinen Thesen regt das Werk zu neuen Diskussionen an, insbesondere bezüglich des linken Antisemitismus, der von den Linken gerne ignoriert wird.

Zum Abschluss wird an die alttestamentarische Geschichte der jüdischen Königin Esther im alten Persien erinnert. Ihr Mann, der persische König, vereitelte damals den Plan der Vernichtung der Juden, erlassen wurde „ein Edikt, das den Juden das Recht gab, sich zu versammeln und sich gegen ihre Feinde zu verteidigen“ (220). In die Gegenwart übertragen spricht sich der Autor für eine „radikale Bekämpfung“ (231) des Antisemitismus aus. – Das Problem ist nur, dass die Macht der totalitären Herrschaft des Islamismus im Iran das ideologische Ziel und die Illusion der Vernichtung Israels verfolgt.

 

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