Aufgrund ihrer geografischen Bedingungen und natürlichen Ressourcen müsste die Russländische Föderation eigentlich den Lebensstandard der Vereinigten Staaten teilen. Doch davon ist das Land weit entfernt. Die Ursachen hierfür sieht der Züricher Historiker Goehrke in der Geschichte des Landes begründet und nennt einige Schlüsselfaktoren: „1. die sozialen Kosten des Imperiums; 2. Russlands historisch gewachsenes Handicap beim wirtschaftlichen Wettlauf mit dem Westen; 3. das wachsende Übergewicht des Staates und die daraus resultierende Herausbildung einer ‚staatsfixierten‘ Gesellschaft und 4. die Bedeutung der orthodoxen Kirche für die Legitimierung und Zementierung autokratischer Macht und die Selbstwahrnehmung Russlands“ (19). Für bemerkenswert an der russischen Geschichte hält der Autor, dass die eigentliche Weichenstellung für die Geschichte Russlands jedoch schon bei der Wahl der Konfession am Ende des 10. Jahrhunderts erfolgt sei. Durch die Entscheidung für das orthodoxe Christentum sei Russland lange Zeit von den Entwicklungen Lateineuropas abgehängt gewesen. Die Veränderungen der europäischen Neuzeit wie Industrialisierung, Säkularisierung und Demokratisierung hätten Russland sehr viel später erreicht. Selbst die Möglichkeit in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts unter Kaiser Alexander II. (1818-1881) mit Russland durch eine Verfassung und ein gewähltes Reichsparlament den Pfad der Autokratie zu verlassen, sei ungenutzt geblieben, schreibt Goehrke. Noch heute habe Russland weiter mit den Grundproblemen seiner Geschichte zu kämpfen. „Russlands Zukunft hängt davon ab, ob und wie schnell es der Gesellschaft gelingen wird, sich von der Bevormundung durch den Staat zu emanzipieren und die in seinen Menschen schlummernden kreativen Kräfte zu entfalten.“ (322)