Skip to main content
Valeri Afanasjev

Russische Geschichtsphilosophie auf dem Prüfstand

Berlin: Lit 2010 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen 101); 203 S.; 2., akt. Aufl.; 29,90 €; ISBN 978-3-8258-6124-7
Für viele ist die russische Ideengeschichte noch immer eine Terra incognita, was nicht zuletzt mangelnden Sprachkenntnissen und dem Fehlen wichtiger Primärtexte in Übersetzungen geschuldet ist. Insofern hätte einer russischen Innenansicht, wie sie von Valeri Afanasjev in deutscher Sprache vorgelegt wird, grundsätzlich eine besondere Bedeutung zukommen können. Aufgrund des Umfangs der Thematik sieht er sich allerdings veranlasst, sich auf das im weiteren Sinne slawophile Denken zu beschränken. Das wäre an sich legitim, würde er sich durch die Komplexitätsreduzierung nicht in so streitbaren Thesen wie der, dass Pjotr Tschaadajew ein Slawophiler gewesen sei, verheddern. In vier größeren Kapiteln befasst sich der Autor mit den Ursprüngen der russischen Geschichtsphilosophie im 19. Jahrhundert, mit den klassischen Ansätzen von Danilewskij und Leontjew, mit der Eurasischen Schule und schließlich mit dem russischen Selbstverständnis zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Was vielversprechend beginnt, entpuppt sich jedoch bald als eine Aneinanderreihung von Zitaten, die häufig nicht reflektiert, dafür aber passgenau in die Argumentation gestreut werden, um ganz bewusst die kulturelle Differenz zwischen Europa und Russland zu betonen. Das führt mitunter dazu, dass die einseitig begründeten Aussagen in Polemik abgleiten, etwa wenn er schreibt: „Der erneute Versuch Russlands [...], europäisch zu werden, welcher heute von der russischen demokratischen Elite gemacht wird, zeigt sehr deutlich, dass Russland beim besten Willen nicht europäisch sein kann. Andererseits ist für jeden Europäer klar, dass Russland – aus welchen Gründen auch immer – nicht in das klein gewordene Europa ‚passt‘.” (152) Insofern liegt die Bedeutung der Schrift vielleicht weniger in der Analyse der russischen Ideengeschichte als vielmehr darin, dass der Autor ein Bild von sich und von Teilen einer tief verunsicherten akademischen Elite zeichnet, die aus den Trümmern des Sozialismus eine positive Identität zu destillieren versucht und dafür eine Vergangenheit bemüht, die den Russen für lange Zeit verschlossen war.
Michael Vollmer (MV)
M. A., Politikwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter, Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, TU Chemnitz.
Rubrizierung: 2.62 | 2.23 Empfohlene Zitierweise: Michael Vollmer, Rezension zu: Valeri Afanasjev: Russische Geschichtsphilosophie auf dem Prüfstand Berlin: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34404-russische-geschichtsphilosophie-auf-dem-pruefstand_41315, veröffentlicht am 15.12.2011. Buch-Nr.: 41315 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken