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Repräsentation durch Wahlen. Das deutsche Wahlrecht in der Diskussion

08.05.2017
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Anke Rösener, Diplom-Politologin

 

 

Unbestritten gilt das Wahlrecht als elementarer Kern unserer Demokratie. Indem es festlegt, wer wählen darf, wie gewählt wird und wie sich die Stimmabgabe auf die Zusammensetzung von Parlamenten auswirkt, bestimmt es die Bedingungen des politischen Wettbewerbs, der Partizipation, Repräsentation und Integration. Das deutsche Bundeswahlgesetz steht regelmäßig in der Kritik, es gilt als überaus komplex und unverständlich. Grundlegende Reformen sind politisch kaum durchzusetzen, punktuelle Veränderungen führen zu Folgewirkungen, die erneut Anpassungen erfordern, kurzum: nach der Reform ist vor der Reform. Mit diesem Themenschwerpunkt sollen Wirkungsweise, Kritik und Reformoptionen des deutschen Wahlrechts näher beleuchtet werden.

In der jüngeren Vergangenheit stand das Sitzzuteilungsverfahren mit der Problematik von Überhangmandaten und negativem Stimmgewicht in der Diskussion. Astrid Kuhn befasst sich in ihrem Beitrag mit den hierzu erlassenen Wahlrechtsurteilen des Bundesverfassungsgerichts von 2008 und 2012. Sie stellt diese in den übergeordneten Kontext der Funktionserfordernisse der parlamentarischen Demokratie und kommt zu dem Ergebnis, dass minimale Änderungen des Wahlrechts kaum die damit verbundenen Erwartungen an eine Stärkung des Parlaments erfüllen können. Mit der Wahlrechtsform von 2013 wurde der vom Bundesverfassungsgericht geforderte Ausgleich von Überhangmandaten festgelegt. In der Folge hat sich eine Debatte darüber entfacht, wie viele Abgeordnete unser Parlament verträgt, die Argumente sind in unserem Digirama nachzulesen.

Dass die gegenwärtige politikwissenschaftliche Beschäftigung mit Wahlrechtsfragen keine normative Wahlsystemdebatte, sondern „eher ein Ringen um einzelne Reformbausteine“ darstellt, zeigt der von Tobias Mörschel herausgegebene Sammelband „Wahlen und Demokratie“. Deutlich werden, so ist der Rezension zu entnehmen, die einzelnen Debattenstränge wie etwa die Frage nach dem Umgang mit den durch die Sperrklausel nicht repräsentierten Wähler*innen oder mit einer sinkenden Wahlbeteiligung. Mögliche Auswege aus dem Trade-off zwischen Proporz und Bundestagsgröße zeigen Joachim Behnke et al. in dem Band „Reform des Bundestagswahlsystems“ auf und spiegeln darin zugleich die bisherige Wahlrechtsdebatte.

Wie gut also fühlen sich Wähler*innen durch ihre Abgeordneten im Bundestag vertreten? Diese Frage über das Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten ist Gegenstand einiger Forschungsprojekte, die wir kurz vorstellen. Wie angesichts der zu beobachtenden Pluralisierung des Parteiensystems eine „ideale Minderheitsregierung“ aussehen könnte, hat Martin Pfafferott in seiner Dissertation untersucht. Vorgestellt wird außerdem eine von Harald Schoen et al. durchgeführte Studie über Wahlkampagnen und Wählerpräferenzen, die Dissertation von Jan Eric Blumenstiel, in der es aus methodischer Perspektive um die zunehmende Wählerheterogenität geht, sowie der von Torsten Oppelland herausgegebene Tagungsband "Das deutsche Wahlrecht im Spannungsfeld von demokratischer Legitimität und politischer Funktionalität". Max Lüggert stellt die Dissertation von Katrin Verena Franz vor, die das individualrechtliche Wahlrechtsverständnis mit dem Gegenentwurf eines organschaftlich verfassten Wahlrechts konfrontiert. Erfahrungen aus Österreich mit Jungwähler*innen aufgreifend, befasssen sich David Johann und Sabrina Jasmin Mayer in ihrem Beitrag „Wählen als Bürgerpflicht?“ mit der Frage der Wahlalterssenkung. Ihre Ergebnisse verdeutlichen, dass die Absenkung des Wahlalters durch Angebote der politischen Bildung begleitet werden sollte. Beispiele dafür, wie diese konkret aussehen könnten, werden – ebenfalls mit Bezug auf Österreich – in dem Sammelband „Demokratie und Wahlrecht als Themen der politischen Bildung“ vorgestellt.

Das deutsche Wahlrecht befinde sich in einem Reformdilemma, weshalb Niels Dehmel Verbesserungspotenziale auslotet und schließlich zwei Lösungsoptionen erwägt: eine verständlichkeits- und eine beteiligungsorientierte personalisierte Verhältniswahl. Erstere würde das Zweistimmen- in ein Einstimmensystem mit Nebenstimme umwandeln. Dehmels zweite Reformoption sei insofern beteiligungsorientiert als sie die bislang geschlossenen Listen der Parteien öffne, sodass nicht nur die Liste an sich, sondern einzelne Personen auf der Liste bevorzugt gewählt werden könnten, schreibt Rezensent Daniel Hellmann.

Eine Auswahlbibliografie mit Kurzrezensionen von Büchern, die neben einzelnen Reformoptionen die Bedeutung des Wahlsystems für die Demokratie und für die politische Kultur unserer Gesellschaft beleuchten, sowie eine Medienschau über Kontroversen um das Wahlrecht runden den Themenschwerpunkt ab.


Anmerkung: Dieser Text wurde ursprünglich von Anke Rösener verfasst und wird seit Februar 2021 weiter von der Redaktion bearbeitet.

 

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