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Franz Gmainer-Pranzl / Sigrid Rettenbacher (Hrsg.)

Religion in postsäkularer Gesellschaft. Interdisziplinäre Perspektiven

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2013 (Salzburger interdisziplinäre Diskurse 3); 464 S.; 74,95 €; ISBN 978-3-631-62998-7
Leben wir in einer postsäkularen Gesellschaft? Jürgen Habermas – als Seismograph aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen gern herangezogen – bejaht diese Frage. Es ist ihm mit seiner These gelungen, eine große Diskussion zu entfachen, die auch von den Autor_innen dieses Sammelbandes aufgegriffen wird. Habermas geht es erstens um die Adäquanz der Säkularisierungsthese, die zumindest in ihrer radikalen Form von einer abnehmenden Religiosität der Gesellschaft auf ein baldiges Verschwinden der Religion insgesamt schloss. Mit dem Begriff der postsäkularen Gesellschaft möchte Habermas nun aber ausdrücken, dass Religion auch in einer sich weiterhin säkularisierenden Umgebung fortbesteht. Hans‑Joachim Höhn hält dieses modifizierte Verständnis für hilfreich, da es die widersprüchlichen Phänomene in westlichen Gesellschaften – einerseits Abnahme der Religiosität, andererseits Wiederaufleben unterschiedlichster Formen von Religion – einfangen könne. Gunter Graf argumentiert dagegen mit Verweis auf die religionssoziologischen Ergebnisse von Detlef Pollack, dass der Begriff „postsäkular“ auf der empirischen Ebene nicht angebracht und schlimmstenfalls sogar „irreführend“ (223) sei, da der Gegensatz von säkular und postsäkular im Lichte empirischer Untersuchungen nicht aufrechtzuerhalten sei. Zweitens verbindet Habermas mit dem Begriff der postsäkularen Gesellschaft jedoch auch den Aufruf zu einem Mentalitätswandel in Form einer gegenseitigen Offenheit zwischen säkularen und religiösen Bürgern. Dadurch sollen vor allem die semantischen Potenziale einer Religion für zentrale gesellschaftliche Probleme von Armut bis zu Fragen der Genetik über einen Übersetzungsprozess in eine allgemein zugängliche Sprache gerettet werden. Während Graf an dieser Stelle Habermas zustimmt, kritisiert Klaus Viertbauer die bei Habermas auftretende Dichotomie zwischen Vernunft und Religion, die erst eine Übersetzung nötig mache. Statt einer „hierarchischen Filterung“ sollte vielmehr eine „Koexistenz variierender Weltzugänge ermöglicht“ (255) werden. Der Sammelband geht aber weit über die Diskussion von postsäkularer Gesellschaft und der Beschäftigung mit Habermas’ These hinaus – so weit, dass jenseits des teils nur noch als Schlagwort aufzufindenden Begriffs der postsäkularen Gesellschaft nicht erkennbar ist, was den interdisziplinären Sammelband thematisch zusammenhält. Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass die einzelnen Beiträge, deren Themen sich von Magie über Religionsparodie bis hin zu Armutsbekämpfung erstrecken, nicht lesenswert sind.
Jan Achim Richter (JAR)
Dipl.-Politologe, Doktorand, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.23 | 2.4 | 2.65 | 5.42 | 5.46 Empfohlene Zitierweise: Jan Achim Richter, Rezension zu: Franz Gmainer-Pranzl / Sigrid Rettenbacher (Hrsg.): Religion in postsäkularer Gesellschaft. Frankfurt a. M. u. a.: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36773-religion-in-postsaekularer-gesellschaft_45061, veröffentlicht am 20.02.2014. Buch-Nr.: 45061 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken