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Willi Baer / Karl-Heinz Dellwo (Hrsg.)

Postdiktatur und soziale Kämpfe in Chile

Hamburg: LAIKA Verlag 2013 (Bibliothek des Widerstands 30); 205 S.; 29,90 €; ISBN 978-3-942281-66-9
Von einer Musealisierung der Gegenwart kann keine Rede sein, wenn der Laika‑Verlag seinem Band über die Geschichte der chilenischen Diktatur (siehe Buch‑Nr. 44580) einen weiteren über die Lage der aktuellen sozialen Widerstandsbewegungen im Land zur Seite stellt. Die einzelnen Beiträge liefern viele ökonomische Zahlen und Fakten über Verschuldungsquoten und Lohnentwicklungen, um die Rahmenbedingungen und momentanen Probleme der chilenischen Gesellschaft aufzuzeigen. Am Grunde des offenbaren Potenzials zur „tiefgreifenden und umfassenden Mobilisierung“ der Gesellschaft steht dieser Analyse nach eine „Legitimationskrise“ des gesamten „wirtschaftlichen, politischen und institutionellen Modells“ (52). Gerade wegen des Ausmaßes der sozialen Zerrüttung stehen die verschiedenen Bewegungen vor der Aufgabe, so die Darstellung, sich einheitlicher zu organisieren – aber sie scheinen „eine Bandbreite zu haben, die eine Reduktion auf ein und dasselbe Phänomen nicht zulässt“ (38). Seit den 1960er‑Jahren taucht in diesem Kontext immer wieder das Konzept der „Poder Popular“ (78) auf – die eine umfassende Volksmacht, nicht die Staatsmacht, als Ziel des sozialen Protests. Gerade bei Fragen der Vergangenheitsbewältigung stößt aber auch dieses Konzept an Grenzen: Die Organisation des ganzen Volkes, also auch der ehemaligen Unterstützer des Folterers Pinochet, erscheint vielen geradezu als monströs. Das gesellschaftliche Zusammenleben in der noch jungen Postdiktatur ist noch immer äußerst fragil. Die enthaltenen soziologischen Interviews demonstrieren den tiefen Konflikt, der hinter „jeder Interaktion, jeder Beziehung“ steht und die Beteiligten zu „Seiltänzern“ (147) macht – ein Konflikt, der sich oft in neuer Gewalt Bahn bricht, wie bei den Feiern und Ausschreitungen an Pinochets Todestag. Umso wichtiger aber ist neben der Auseinandersetzung mit den Tätern auch die Beschäftigung mit den vielen Opfern. Und so machen vor allem die Dokumentationen der psychologischen Arbeit mit Betroffenen des sexualisierten Terrors und der forensischen Suche nach den Verschwundenen die großen Herausforderungen deutlich, vor denen die chilenische Gesellschaft steht.
Florian Geisler (FG)
B. A., Politikwissenschaftler, Student, Goethe Universität Frankfurt am Main.
Rubrizierung: 2.652.22 Empfohlene Zitierweise: Florian Geisler, Rezension zu: Willi Baer / Karl-Heinz Dellwo (Hrsg.): Postdiktatur und soziale Kämpfe in Chile Hamburg: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37665-postdiktatur-und-soziale-kaempfe-in-chile_44581, veröffentlicht am 16.10.2014. Buch-Nr.: 44581 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken