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Alexander Gallus (Hrsg.): Politikwissenschaftliche Passagen. Deutsche Streifzüge zur Erkundung eines Faches

12.10.2017
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Autorenprofil
Dr. Arno Mohr
Baden-Baden, Nomos 2016

Wie bei den Naturwissenschaften und der Medizin bereits seit Jahrzehnten als naturwüchsige Selbstverständlichkeit und Normalität feststellbar, ist auch der Ausdifferenzierungsprozess der Arbeitsfelder in den Sozialwissenschaften so weit fortgeschritten, dass Versuche, eine konsolidierende Verklammerung der einzelnen Gebiete herbeizuführen, kaum eingelöst werden konnten. Fundamentaltheorien, die dieses Unterfangen vielleicht zu einem krönenden Abschluss bringen könnten, wie zum Beispiel die Systemtheorie mit ihren vielfältigen Varianten, haben ihre Catch-all-Funktion so gut wie eingebüßt.

Auch die Politikwissenschaft bleibt von dieser unwiederbringlichen Entwicklung nicht ausgeschlossen. Es genügt schon ein oberflächlicher Blick auf das Spektrum der Policy-Analyse, um festzuhalten, wie enorm groß die Diversität der Problemzonen definiert ist, die politikwissenschaftlich bearbeitet werden. Aber auch in anderen wichtigen Disziplinbereichen wie den Internationalen Beziehungen oder der Politik der Europäischen Union (Integrationsfragen; querelles desintegratives) sind diese Charakterzüge zu beobachten. Hinzu kommt, dass vor allem im Rahmen der Politikfeldanalyse in Bereichen wie der Wirtschafts-, Rechts- oder Cyberpolitik Konkurrenten aus der Volkswirtschaftslehre, der Jurisprudenz oder der Informatik beziehungsweise Sicherheitstechnik mit der Anhäufung komplexerer Fachkompetenzen eher zu Problemlösungsstrategien beitragen können als die anders gearteten politikwissenschaftlichen Fragestellungen, Ansätze und Methoden. Das wird jedenfalls in der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit so wahrgenommen.

Dieser sichtbaren Konditionierung der Politikwissenschaft als „kleinteilige[m]“ Forschungsunternehmen sucht der Sammelband mithilfe normativer Kompetenzverstärkungen und der Schärfung des politischen Urteilsvermögens entgegenzuwirken. Jedenfalls durchzieht dieses Anliegen den einleitenden Problemaufriss des Herausgebers Alexander Gallus, aber auch andere Beiträge, vor allem, wenn sie theoretisch-philosophischen Traditionsbeständen nachempfunden sind. Dem Autor missfallen Theorielastigkeit und methodologischer Platonismus gleichermaßen, überhaupt die eingefahrene Hingabe an eine szientistische Mentalität, die das Potenzial dieser Wissenschaft sträflich unausgeschöpft beziehungsweise in Vergessenheit geraten lässt.

Es geht um die Beantwortung unterschiedlicher Fragen, die Gallus aufwirft, um das Selbstverständnis der Politikwissenschaft unter veränderten Rahmenbedingungen interner wie externer Art situationsadäquat zu problematisieren, vielleicht sogar neu justieren zu können: So geht es um das Verhältnis von „hochspezialisierter“ Forschung und „holistischen“ Deutungsschemata; die Öffentlichkeitswirksamkeit mittels Zeitdiagnostik; die Homogenitätsproblematik („unified science“); die Beziehung zwischen empirischer Arbeit und normativen Werturteilsaspekten; das Theorie-Praxis-Problem; die Interdisziplinarität mit synoptischer Zielrichtung; neue, schnelllebige, ungeahnte und sich verfestigende Strukturen neuartigen Typs; unter dem Primat von Partizipationsbestrebungen stehende erweiterte, nicht-etatistische Entscheidungsprozeduren und entsprechend hochkomplexes Entscheidungshandeln beziehungsweise -versagen; die Staatswissenschaft oder „Governance“-Science; die Existenz „zeitlose[r] Fragen“ jenseits kontextbezogener Ideen oder Ideensysteme; die Politikwissenschaft als „politische Wissenschaft“ mit „normativ-polarisierenden“ Ansprüchen (18 f.).

Auf diesen Fragekomplex sollen in fünf „Passagen“ (Streifzügen zur „Erkundung“) 14 Autoren Antwortversuche liefern, die im Großen und Ganzen die relevanten Arbeitsgebiete des Faches umfassen: Der erste Teil bezieht sich auf die Ideengeschichte (Ellen Thümmler), Theorie und Praxis (Barbara Zehnpfennig, Peter Graf Kielmannsegg). Staat und Demokratie stehen im zweiten Streifzug im Mittelpunkt (Roland Sturm zur Staatsorientierung der Politikwissenschaft, Manfred G. Schmidt über Krisentheorien der Demokratie, Frank Decker zum Thema Demokratie und Partizipation). Dem schließt sich als dritter Bereich die Thematik „aktuelle und kontroverse Politikfelder“ an (Sebastian Liebold über politische Theorie der Nachhaltigkeit, Nikolaus Werz über Entwicklungsländerforschung, Klaus von Beyme über Religion und Säkularisierung, Uwe Backes zur Extremismusforschung). Im vierten Abschnitt werden in zwei Aufsätzen disziplinäre Grenzgebiete behandelt: Geschichte sowie Wahlsystemforschung und ihre politische Relevanz (Alexander Gallus, Florian Grotz). Der fünfte Streifzug widmet sich den politikwissenschaftlichen Schulen und ihrer Erbmasse – eigentlich nur Eckhard Jesse. In der persönlich imprägnierten kritischen Stellungnahme Jürgen W. Falters werden dessen Erfahrungen mit der Präponderanz einer szientistischen Wissenschaftseinheit aus dem Munde „eines desillusionierten Empirikers“ beklagt. Den Abschluss bildet ein wiederabgedrucktes Interview mit Jesse über „Stand und Aufgabe der Politikwissenschaft“. Jesses Emeritierung war übrigens der Anlass eines Abschiedskolloquiums, dessen Vorträge Grundlage der einzelnen Beiträge in diesem Sammelband sind (so Gallus, 20).

Einige Spezifika lassen sich herausdestillieren: In nicht wenigen Beiträgen und in Absetzung vom diagnostizierten Imperialismus der szientistischen Forschungsmethodologie geht es im Prinzip um eine Revindikation der Politikwissenschaft als „Demokratiewissenschaft“. Aus dieser Zielformulierung heraus wird wie automatisch eine Reformulierung der Prinzipien und Wertgebundenheit im demokratischen Sinne der „Gründerväter“ der Disziplin als legitime Forderung erhoben. Daraus ergibt sich die weitere Schlussfolgerung, der Wertungskategorie des politischen Urteilens, die dem Fach abhandengekommen sei, wieder Leben einzuhauchen.

Barbara Zehnpfennig empfindet, dass die stupende Gegenwartsfixiertheit unseres gesellschaftlichen Lebens auch auf die Politikwissenschaft abgefärbt und die „ewigen“ Fragen des geschichtlichen Bewusstseins unhistorisch als metaphysische Spekulation, weil nicht überprüfbar, abgetan habe (45). Gleichzeitig werde aber auf der empirischen Fundiertheit der Politischen Theorie als Voraussetzung normativer Verhaltenscodices bestanden (Zehnpfennig, 50). Nach Zehnpfennig gehe eine rational operierende Politische Theorie „in ganz andere Tiefendimensionen als die Praxis“, da eine anwendungsorientierte Wissenschaft – die Autorin setzt hier wohl anwendungsorientiert und empirisch-analytisch gleich – unfähig sei, ihre Prämissen zu reflektieren (52) – was in dieser Entschiedenheit so nicht stimmt. Zehnpfennig sieht in der antiken Philosophie den Haltepunkt, bedingt durch ihre einfachen und klaren Einsichten, weiterhin das fundamentum in re des politischen Lebens zu sein, die den Verkomplizierungen und Partikularismen der Moderne nicht nur fremd seien, sondern darüber hinaus auch das Wesentliche verfehlen würden (61).

Auch Peter Graf Kielmannsegg rekurriert letzten Endes auf die Orientierungsleistungen einer „zweieinhalbtausendjährigen Geschichte des politischen Denkens“, die die Politikwissenschaft daran erinnere, dass „sie Ratgeberin für das politische Lebewesen Mensch“ (80) sei. Auf Urteilskraft setzt auch Sebastian Liebold; deren Geltendmachung sei die Voraussetzung von Entscheidungen (144). Auch bei ihm bleiben die normativen Evidenzen der Ideengeschichte die wichtigste Voraussetzung der Politikberatung (150). Und in dem Interview am Ende des Bandes hat Eckhard Jesse sich bemüht gefühlt, die Notwendigkeit des politischen Urteilens herauszustellen (300). Wenn man natürlich die Maßstäbe des Urteilens über politische Zusammenhänge und politisches Handeln aus dem Moment der Fetischisierung eines petrifizierten und statischen Demokratiemodells, wie es das deutsche Grundgesetz bestimmt nicht kodifiziert hat, schöpft wie Uwe Backes, dann hat man das Prinzip einer „lebenden Verfassung“ (Dolf Sternberger) schlicht und ergreifend nicht begriffen.

Wenn man jede sozioökonomische und politische Veränderung eines angenommenen Modells den äußeren Rändern der Extremismusskala zuordnet, dann muss man eigentlich zu dem Schluss kommen, nur noch von „inneren Feinden“ der Demokratie bedroht zu werden. Dann ist „Demokratiewissenschaft“ nichts anderes als „Kampfwissenschaft“. Extremismus- und Totalitarismusforschung erscheinen bei Backes grosso modo als ein Königsweg zwischen Illusionismus und Empirizismus – als ob sich Autoren mit empirisch-analytischem Hintergrund gegenüber extremistisch/terroristischen Bewegungen ‚neutral‘ oder ‚indifferent‘ verhielten.

Gerade die vielgescholtene empirische Sacharbeit, die unter Vermeidung pathetischer Mystifizierungen ungefähr die Hälfte der Beiträge ausmacht – die entweder erfahrungswissenschaftlich untermauerte komplexe Einzelanalysen oder reflektierte Bestandsaufnahmen bieten –, hat gerade jene Gegenstandsbereiche erfasst, auf die sich doch das politische Urteilen gründen soll. Außerdem gilt es, noch auf einen anderen Aspekt hinzuweisen, der meist unterbelichtet bleibt: Politisches Urteilen zu fordern ist leicht. Aber schwierig wird es, das Problem zu lösen, wie man zu Urteilen kommt, auf welchen Wegen Urteilskraft geformt werden kann. Gelten als Maßstäbe Pragmatismus, Zweckrationalität, technokratischer Sachzwang? Allzu leicht gerät man in den Sog von Ideologemen, die, wie oft beobachtbar, ein evidenzbasiertes „Urteilsvermögen“ vorgaukeln. Auch die wohlfeile Tradierung des Klassikerkanons, die nur eigenes originelles Denken reduziert, hilft nicht weiter. Weil in diesem Band vielfach der Monumentalisierung der Altvorderen des Faches das Wort geredet wird: Der erste Lehrstuhlinhaber des neuen Faches an der Universität Frankfurt, der heute völlig unbekannte Ernst-Wilhelm Meyer, konnte sich überhaupt nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass das Lebenselixier politischer Forschung darin zu bestehen habe, zum x-ten Male diese oder jene Stelle Hegels zu interpretieren. Es gehe vielmehr darum, sachbezogene Forschung zu betreiben, die die Lösung praktischer politischer Problemlagen mit zu definieren und gehaltvolle sowie zuverlässige Lösungsmodelle vorzuschlagen suchen. Die „Normativisten“ sollten sich nichts vormachen: Auch ihre Forschungsleistungen sind übermäßig spezialisiert, verlieren sich in esoterischen Spielereien oder verwechseln Wissenschaft mit Weltanschauungslehre.

 

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Aus der Annotierten Bibliografie

Irene Gerlach / Eckhard Jesse / Marianne Kneuer / Nikolaus Werz (Hrsg.)

Politikwissenschaft in Deutschland

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2010 (Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft [DGfP] 27); 559 S.; 49,- €; ISBN 978-3-8329-6229-6
Zwischenbilanzen über den Stand einer Fachwissenschaft rücken Stärken und Schwächen, Defizite und blinde Flecken ins Blickfeld. Für die Politikwissenschaft musste man lange auf eine solche aktuelle Selbstvergewisserung verzichten. Der von Klaus von Beyme 1986 herausgegebene Sammelband („Politikwissenschaft in Deutschland”, PVS-Sonderheft 17) liegt 25 Jahre zurück – für die Entwicklung einer Wissenschaft fast eine Ewigkeit. Nach einem vergleichbaren Versuch der Deutschen Vereini...weiterlesen


Andreas Anter / Wilhelm Bleek

Staatskonzepte. Die Theorien der bundesdeutschen Politikwissenschaft

Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2013 (Staatlichkeit im Wandel 18); 149 S.; kart., 24,90 €; ISBN 978-3-593-39895-2
Ausgangspunkt der prägnanten Schrift ist das von den Autoren mit Hermann Heller geteilte Diktum, dass Politikwissenschaft ohne eine Staatslehre nicht möglich ist. Dies liege nicht nur daran, dass der Staat entgegen mancher Jubel‑ oder Unkenrufe noch immer der zentrale politische Akteur sei, sondern auch, dass er sich als wichtiger Brückenbegriff für die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen „Staatswissenschaften“ anbiete. Vor diesem Hintergrund rekonstruieren Andreas Ant...weiterlesen


Manfred Gangl (Hrsg.)

Das Politische. Zur Entstehung der Politikwissenschaft während der Weimarer Republik

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2008 (Schriften zur politischen Kultur der Weimarer Republik 11); 393 S.; brosch., 49,80 €; ISBN 978-3-631-57616-8
Dass sich die deutsche Politikwissenschaft fortwährend mit ihrer eigenen Geschichte befasst, ist nicht neu. Dass sie dieses im Rahmen einer Pariser „Groupe de recherche sur la culture de Weimar“ tut, ist allerdings neu und durchaus beachtenswert. So sind an diesem Sammelband deutsche und französische Experten und Nachwuchswissenschaftler beteiligt. Im Einleitungsaufsatz resümiert Manfred Gangl den disziplingeschichtlichen Forschungsstand und stellt die den Titel des Buches begründend...weiterlesen

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