Nick Srnicek: Plattform-Kapitalismus
14.06.2018
Widerspruch zu einer Entwicklung, die die Zukunft gefährdet
Der Kapitalismus ist in eine neue Ära eingetreten, lautet die Annahme von Nick Srnicek, Dozent für Internationale Politische Ökonomie an der University of London. Seine Bestandsaufnahme dieses „aktuellen Augenblick[s] in unserer Geschichte“ (7) bietet allerdings aus zweierlei Gründen wenig Anlass zu Optimismus: Seiner Ansicht nach dauern zum einen seit den 1970er-Jahren schwelende Probleme an, zum anderen profitieren die Technologie-Firmen, deren Aktivität die neue Ära bestimmt, immer noch von anderen Branchen, die Wertschöpfung betreiben, und versuchen zugleich, jegliche Privatheit aufzuheben. Der Plattform-Kapitalismus erscheint damit nicht geeignet, den Kapitalismus nachhaltig zu erneuern und zukunftsfest zu machen.
Um zu verstehen, was es mit dem Plattform-Kapitalismus auf sich hat, definiert Srnicek die großen Technologie-Firmen „als wirtschaftliche Akteurinnen in einer kapitalistischen Produktion“ (8), die danach streben, Gewinn zu erwirtschaften und Konkurrenz abzuwehren. Damit wird der Fokus der Analyse gezielt auf das Kapital und nicht auf die Arbeit gelegt. Von Bedeutung ist die Digitalwirtschaft, so der Autor, weil sie ähnlich wie der Finanzsektor systemrelevant geworden ist – einigen wenigen Unternehmen gehören inzwischen wesentliche Teile der Infrastruktur.
Im ersten Kapitel steht „Der lange Niedergang“ des Kapitalismus schlaglichtartig im Mittelpunkt. Drei Entwicklungen bilden dabei nach Srnicek die Basis der heutigen Digitalwirtschaft: In den 1970er-Jahren setzte ein Abschwung ein, sinkende Profitabilität und weltweite Überkapazitäten haben sich seitdem verstetigt – mit schwerwiegenden Folgen: „Die außergewöhnliche Konstellation – die sich grob definieren lässt als integrierter Liberalismus auf internationaler Ebene, als sozialdemokratischer Konsens auf nationaler Ebene und als Fordismus auf ökonomischer Ebene – ist […] im Zerfall begriffen.“ (18) In den 1990er-Jahren ist ein wirtschaftliches Auf und Ab hinzugekommen, im Ergebnis begann die Suche nach neuen, renditestarken Investitionen. Es kam zur Dotcom-Blase, die zwar platze, dennoch entstand in dieser Zeit „eine Infrastruktur als Grundlage für die Digitalwirtschaft“ (23). Andere Investitionen flossen in Immobilien – das Platzen dieser Blase mit der darauffolgenden Weltwirtschaftskrise 2008 benennt Srnicek als drittes markantes, für die Gegenwart wichtiges Ereignis: Da seitdem angesichts niedriger Zinsen kaum noch Renditen zu erzielen sind, haben sich Investoren erneut auf die Suche nach zwar unsicheren, aber dennoch verheißungsvollen Investitionsmöglichkeiten begeben und den Plattform-Kapitalismus für sich entdeckt – finanziert werden, teilweise mit Beträgen in schwindelerregender Höhe, Unternehmen, die möglicherweise in der Zukunft einen großen Gewinn abwerfen werden. „Uber ist in dieser Hinsicht der vielleicht größte Sünder, denn es heißt, das Unternehmen verbrenne jährlich 1 Milliarde Dollar, nur um sich im Wettbewerb gegen eine weitere nicht profitable Firma in China zu behaupten.“ (119)
Im zweiten Kapitel stellt Srnicek diesen zunächst also häufig fremd- und/oder querfinanzierten Plattform-Kapitalismus genauer vor und benennt die Gewinnung und Nutzung von Daten als die zentrale Quelle der Geschäftstätigkeit. Festgestellt wird, dass die Plattformen auch die Spielregeln im Umgang mit den Daten bestimmen und kontrollieren. Insbesondere mit Blick auf werbefinanzierte Plattformen, allen voran Facebook und Google, warnt Srnicek davor, dass jegliche gesellschaftliche Interaktion zu einer unbezahlten Arbeit für den Kapitalismus wird, „und wir müssen befürchten, dass es gar nichts mehr außerhalb des Kapitalismus gibt“ (56). Mit dieser These steht er nicht alleine, sie findet sich auch in dem Sammelband „Wa(h)re Gefühle“, den die Soziologin Eva Illouz Anfang 2018 publiziert hat – in den Abhandlungen über die Illusionen eines aufregenden Lebens, die die Tourismus-Industrie verkauft, oder über die Erzeugung von Gefühlen im Rahmen einer kommerzialisierten Musik wird allerdings die Verunmöglichung eines Lebens außerhalb kapitalistischer Verwertungsstrukturen auch ohne Digitalisierung beschrieben.
Eine Einverleibung in den digitalen Kapitalismus setze aber das private Leben dem „Druck der üblichen kapitalistischen Imperative“ (57) aus (Rationalisierung, Kostensenkung, Produktivitätssteigerung), schreibt Srnicek, ohne dabei einen positiven Effekt zu erzeugen: Da die Digitalwirtschaft vom Geldzufluss anderer, weiterhin wertschöpfender Branchen abhängt (auch in Form von Werbeeinnahmen), qualifiziert er sie als parasitär. Damit aber befindet sich der weltweite Kapitalismus weiterhin „in einem desolaten Zustand“ (58). Bekräftigt wird dieser Befund mit einem Hinweis darauf, dass die Technologie-Firmen ihrerseits wenig investieren (allenfalls in unrentable Start-ups), sie vermeiden es, Steuern zu zahlen, und wachsen vor allem durch Fusionen und Übernahmen. Damit wird weder der Sozialstaat unterstützt noch der Arbeitsmarkt gesichert – vor allem auf den schlanken Plattformen der Gig Ecomony entstehen in erster Linie prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Um die Konsequenzen zu veranschaulichen, verweist Srnicek auf die USA: Dort geht der „gesamte Nettozuwachs an Arbeitsplätzen nach 2008 […] auf nicht traditionelle Beschäftigungsverhältnisse wie Subunternehmerschaft und Arbeit auf Abruf zurück“ (92).
Das dritte Kapitel ist mit „Große Plattform-Kriege“ überschrieben – der Plattformen gegeneinander, die versuchen, sich eine Alleinstellung zu sichern. Prominentestes Beispiel ist Facebook, das es mit „Free Basics“ in 37 Ländern bereits geschafft hat, so Srnicek, den alleinigen Zugang zum Internet bereitzustellen. Es ist aber durchaus auch ein Krieg gegen die Gesellschaft, indem die Privatheit angegriffen wird mit dem Ziel, sie abzuschaffen. Herausragendes Beispiel dürfte hier „Alexa“ von Amazon sein, das Assistenzinstrument hört jedes gesprochene Wort mit. Nur so kann – in diesem Fall: – Amazon alle Daten sammeln und für den eigenen digitalen Kreislauf nutzen. Die Abschottung der Daten auf der eigenen Plattform, die mit dieser Art des Wirtschaftens einhergeht, könnte zu einer „Fragmentierung des Internets“ (113) führen, schreibt Srnicek – womit es sich dann in sein Gegenteil verkehrt hätte, war es doch für den freien Wissensaustausch einst erfunden worden.
Srnicek erreicht mit seiner stringenten Argumentation sein selbstgestecktes Ziel, die Plattformen in den Kontext der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte einzuordnen, die Situation damit zu verstehen und eine Strategie zu entwickeln. Sein Vorschlag basiert auf der Annahme, dass die Plattformen eben nicht in der Lage sein werden, die Probleme der mangelnden Profitabilität und die weltweiten Überkapazitäten auszugleichen. Auch dienen sie mit ihrem nach Datenmonopolen strebenden Geschäftsmodell nicht der freien Gesellschaft. Das ebenso naheliegende wie plausible, dennoch bisher kaum ausgesprochene Plädoyer lautet daher, nicht zu versuchen, die kommerziellen Anbieter zu regulieren, sondern öffentliche, postkapitalistische Plattformen einzurichten.