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Alice Goffman

On the Run. Die Kriminalisierung der Armen in Amerika. Aus dem Englischen von Noemi von Alemann, Gabriele Gockel und Thomas Wollermann

München: Verlag Antje Kunstmann 2015 ; 368 S. ; 22,95 €; ISBN 978-3-95614-045-7
Dass die USA ein strukturelles Problem mit Rassismus haben, ist nicht erst seit dem Tod von Michael Brown und den sich daran anschließenden Unruhen in Ferguson bekannt. Insofern ist der Untertitel des Buches zunächst irreführend und nur verständlich, wenn man bedenkt, dass afroamerikanische Herkunft und Armut Hand in Hand gehen. Seit dem Ende der Bürgerrechtsbewegung, so konstatiert Alice Goffman, steigen die Häftlingszahlen; mittlerweile befinden sich drei Prozent der US‑Bevölkerung unter der Aufsicht des Justizvollzugs, wobei überdurchschnittlich häufig Schwarze betroffen sind. Schuld daran ist das seit Mitte der 1970er‑Jahre einsetzende härtere Vorgehen gegen Drogen‑ und Gewaltdelikte, das unter dem Begriff „tough‑on‑crime“ bekannt wurde. Das Skandalon an dieser Entwicklung ist der nahtlose Übergang von der offenen und repressiven Unterdrückung der Schwarzen zu einer unter dem Deckmantel der Strafjustiz versteckten Form. Bei dem Buch handelt sich um einen Vor‑Ort‑Bericht, der das Leben und Sterben vor allem der jungen schwarzen Bevölkerung in den ghettoisierten Vierteln der Städte beschreibt. Zugleich geraten die vielfältigen Formen der Überwachungs‑ und Kontrolltechniken in den Fokus. Die Vorteile, die sich aus der teilnehmenden Beobachtung ergeben, nämlich Authentizität und Dynamik der Erzählung, bilden zugleich die Nachteile. Goffman verpasst es, ihr sich mit den Beobachteten identifizierendes Vorgehen zu diskutieren und ihr Buch in einen breiteren Forschungskontext zu stellen. Insbesondere muss es verwundern, dass die Studien Michel Foucaults zur Disziplinierung durch Wegsperren als Grundlage moderner Ökonomie nicht zu Wort kommen. Der Autorin gelingt es indes vorzüglich, das Dilemma des neoliberalen Sicherheitsstaates offenzulegen: Während einerseits berufliche Perspektiven fehlen und soziale Sicherungen abgebaut werden, wird andererseits gegen die oftmals einzige Einnahmequelle (Drogen) mit unbarmherziger Brutalität vorgegangen. Es handelt sich um eine typische Vorgehensweise, die auch die Flüchtlingspolitik Europas bestimmt: Nicht die Ursachen der Kriminalität gilt es zu beseitigen, sondern lediglich die Symptome, und das auf Kosten ganzer Bevölkerungsschichten. Indem man diese wegsperrt, meint man auch das Problem gelöst zu haben.
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Rubrizierung: 2.642.22.232.263 Empfohlene Zitierweise: Patrick Stellbrink, Rezension zu: Alice Goffman : On the Run. München: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38665-on-the-run_46533, veröffentlicht am 23.07.2015. Buch-Nr.: 46533 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken