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Klaus Scherer

Nagasaki. Der Mythos der entscheidenden Bombe

Berlin: Hanser 2015; 254 S.; 19,90 €; ISBN 978-3-446-24947-9
Der Einsatz der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki als entscheidendes Ereignis zur Beendigung des Zweiten Weltkriegs auch im fernen Osten ist eines der zentralen Narrative der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Klaus Scherer, ARD‑Fernsehjournalist und langjähriger Fernost‑Korrespondent, sammelt in seinem Buch Belege dafür, dass diese Geschichte so nicht stimmt. Wie es dazu kommen konnte, dass „den Atombomben im Allgemeinen und der Nagasaki‑Bombe im Besonderen [...] eine so alleinentscheidende Wirkung“ (8) beigemessen wurde – zumal dies unmittelbar nach ihrem Einsatz noch ganz anders interpretiert wurde –, ergründet der Autor in Interviews mit Augenzeugen und Historikern sowie durch einen Blick auf die jüngere Forschung. Scherer stellt dabei die Handlungslogik der japanischen und US‑amerikanischen Entscheider gegenüber. Dabei geht er bereits gleich zu Beginn auf eine alternative, durch die jüngere historische Forschung vorgebrachte Erklärung ein. Demnach haben nicht die Atomwaffenabwürfe die japanische Kapitulationsentscheidung maßgeblich bestimmt, sondern vielmehr das Ende der vermeintlichen Neutralität Stalins, markiert durch die sowjetische Kriegserklärung gegenüber Japan am 8. August 1945, also zwischen den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Diese vom US‑amerikanischen Historiker Ward Wilson vertretene Position greift Scherer, nachdem er ausführlicher auf die innerjapanischen Entwicklungen im Verlauf der Kapitulationserklärung eingegangen ist, später wieder auf, wenn er vom „sowjetische[n] Faktor“ (146) schreibt, der das „Märchen vom ‚Final Blow’“ (123) widerlege. Scherer leitet von diesem faktischen Argument zu einer normativen Bedeutung der Ereignisse über, wenn er Akira Kimura vom Friedensforschungsinstitut in Nagasaki auf die Frage nach den heutigen Lehren von Hiroshima und Nagasaki mit den Worten zitiert, es sei „dringend geboten, dass sich die Welt von dem Mythos verabschiede, die Atombomben seien in irgendeiner Weise gerechtfertigt gewesen“ (233). Dieser Satz bringt das Kernanliegen des Autors am besten auf den Punkt. Das eigentliche Ende seines Buches widmet er allerdings Henry L. Stimson, Kriegsminister und entscheidendem Protagonisten auf US‑Seite. Ihm gilt der Vorwurf, seinen eigenen Vorschlag, die Zustimmung zur Beibehaltung des japanischen Kaisertums zu gewähren, die als entscheidende Voraussetzung für die Bereitschaft der Inselnation galt, auch ohne einen Bombenabwurf zu kapitulieren, nicht nur nicht durchgesetzt, sondern nachträglich zugunsten der Erzählung eines moralisch gerechtfertigten Bombenabwurfs in den Hintergrund gerückt zu haben.
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Rubrizierung: 4.12.642.68 Empfohlene Zitierweise: Christian Patz, Rezension zu: Klaus Scherer: Nagasaki. Berlin: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39180-nagasaki_47584, veröffentlicht am 10.12.2015. Buch-Nr.: 47584 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken