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Paul Lendvai

Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch

Salzburg: ecowin 2010; 233, S.; 23,60 €; ISBN 978-3-902404-94-7
Der aus Ungarn stammende österreichische Publizist legt mit diesen Betrachtungen zur politischen und gesellschaftlichen Situation eine besorgniserregende Analyse vor. In Ungarn, einst das Musterland unter den Reformwilligen in der kommunistischen Welt, habe sich in den Jahren zwischen 1990 und 2010 ein enormer Wandel vollzogen. Antisemitische und fremdenfeindliche Töne seien an der Tagesordnung, Mordanschläge auf Roma hätten internationale Kritik hervorgerufen. Laut Lendvai ist es dem Land nicht gelungen, den tiefen Bruch zwischen Patriotismus und Liberalismus zu schließen, der Ungarn seit hundert Jahren kennzeichne. Die enormen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Belastungen durch den Wandel zum marktwirtschaftlichen System habe die erste demokratische Regierung unter József Antall nur sehr bedingt bewältigt. Zudem habe Antall mit nationalistischen Tönen die Nachbarländer zu anti-ungarischen Äußerungen getrieben, was heute von den Nationalisten ausgenutzt werde. Die Ursachen des ungarischen Antisemitismus sieht der Autor allerdings schon in den Entwicklungen am Ende des Ersten Weltkriegs begründet. Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns und die 133 Tage der kommunistischen Räterepublik „zerstörten auch den historischen Pakt zwischen der herrschenden politischen Klasse und dem ungarischen Judentum“ (67). Gegenwärtig wirke es sich fatal aus, dass die Parteien der Mitte, wie die Liberalen oder die Sozialisten, sich teils selbst demontiert hätten. Der Wahlsieg im April 2010 bescherte dem neuen Ministerpräsidenten Viktor Orbán eine Zweidrittelmehrheit. Lendvai charakterisiert ihn als Machtpolitiker, der gekonnt auf nationalistische Töne setze, auch um die rechtsradikale Partei Jobbik kleinzuhalten. Innerhalb von zwei Monaten besetzte Orbán Führungspositionen auf allen Ebenen um: Polizeichefs, in der Staatsbahn, der Lotterie, der Rentenversicherung oder Finanzaufsicht. Die neue mächtige nationale Medienbehörde ist bestrebt, auch die Programme privater Sender zu regulieren. Seit Ungarn zudem für seine jüngste Pressegesetzgebung international kritisiert wird, sieht sich auch der Autor dieses Buches Angriffen und Drohungen aus nationalistischen Kreise ausgesetzt.
Timo Lüth (TIL)
Student, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.612.222.232.24 Empfohlene Zitierweise: Timo Lüth, Rezension zu: Paul Lendvai: Mein verspieltes Land. Salzburg: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/21640-mein-verspieltes-land_39617, veröffentlicht am 11.01.2011. Buch-Nr.: 39617 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken