Mustafa Acar: Marginalisierung und Radikalislam

07.08.2019
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Michael Rohschürmann
Hamburg, Verlag Dr. Kovac 2019

Einstellungen türkischer Jugendlicher in Hamburg-Wilhelmsburg

In seiner Hochphase entfaltete der Islamische Staat unter europäischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine große Sogwirkung. Seitdem richtet sich ein verstärktes Forschungsinteresse auf die Frage, warum Jugendliche, die in Europa aufgewachsen und vermeintlich mit westlichen Werten sozialisiert wurden, so anfällig gegenüber den radikal religiösen Welterklärungen dschihadistischer Gruppen sind. Vor diesem Hintergrund untersucht Mustafa Acar den Zusammenhang zwischen kultureller und räumlicher Marginalisierung und Radikalisierungstendenzen unter türkischen Jugendlichen am Beispiel des Hamburger Stadtteils Wilhelmsburg. Dieser weist eine überdurchschnittliche Anzahl Migranten sowie hohe Arbeitslosen- und Sozialhilfebezugsquoten auf. (35 f.) Er kann also durchaus als vernachlässigt angesehen werden. Eben diese Marginalisierung kommt auch in den Aussagen der befragten Jugendlichen zum Ausdruck. Die Wahrnehmung, dass der Wohnort einen wesentlichen Einfluss auf die Bildungs- und Berufsaussichten der Menschen hat, ist verbreitet. Zudem herrscht unter den muslimischen Jugendlichen die Ansicht vor, dass auch ein höherer Bildungsabschluss die sozialen Aufstiegschancen kaum verbessern kann (128). Die eher negative Wahrnehmung ihres Wohnortes führt logischerweise auch dazu, dass eine Verbundenheit der Jugendlichen mit ihrem Stadtviertel kaum entstehen kann. Dies wiederum behindert die Herausbildung zivilgesellschaftlichen Engagements, welches der Marginalisierung entgegenwirken könnte – ein Teufelskreis.

Für die Befragten sind zudem die Phänomene Marginalisierung und Radikalisierung verbunden und bedingen sich gegenseitig. Ihre Religion, den Islam, nehmen über die Hälfte der Jugendlichen als „heutzutage politisiert und radikalisiert“ (128) wahr. Gleichzeitig gestehen die befragten türkischen Jugendlichen den radikaleren dschihadistischen Organisationen keine Rolle als „Verteidiger des Islam“ (129) zu. Eine solche Ansicht wird nur von 7 Prozent der Befragten unterstützt. Dennoch sei ihr Einfluss in Wilhemsburg hoch.

Acars Studie belegt zudem, dass die Migranten eben nicht in westlichen kulturellen Werten sozialisiert wurden: „Türkische Jugendliche in Wilhelmsburg leben in ihrem eigenen ethnischen und sozialen Kulturkreis. Das bedeutet, dass sie mit religiösen und nationalen Vorstellungen aufgewachsen sind, die sie von ihren Familien und von ihrer Umgebung übernommen haben. [...] Es gibt auch die autoritär-patriarchalen Familien, die ihre Kinder nach einem antiwestlichen und fundamentalistischen Deutungsmuster sozialisieren.“ (128)

Auf die Frage nach möglichen Präventionsmaßnahmen werden räumliche Lösungen („Abschaffung des Ghettos“, 130) als unwirksam angesehen und politischen Maßnahmen – vor allem der Bildung – der Vorrang eingeräumt. Wie dies indes zu der Aussage passt, dass ein höherer Bildungsgrad keinen Effekt auf soziale Aufstiegschancen habe, bleibt offen.

„Die islamische Radikalisierung ist ein komplexer Prozess, der von einem individuell-psychologischen Hintergrund gesehen werden muss“ (132), resümiert Acar. Dieses Fazit ist ebenso richtig wie wenig originell. Um einen weitergehenden Aussagewert zu erhalten oder die Ergebnisse für Planungen von Präventionsmaßnahmen in Wert zu können, hätten diese Daten mit anderen muslimischen Migrantengruppen aus anderen Städten verglichen werden müssen. Weitere Ableitungen als die oben genannte wären bei einem derart gesellschaftlich relevanten Thema durchaus wünschenswert gewesen. So stellt die Studie eine interessante Erhebung zu Einstellungen türkischer Jugendlicher aus Wilhelmsburg dar – nicht mehr und nicht weniger.

 

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