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Islamistische Radikalisierung in der westlichen Welt. Die Erforschung eines komplexen Phänomens

03.01.2017
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Anke Rösener, Diplom-Politologin

 

Mit dem Begriff der islamistischen Radikalisierung verbinden sich unterschiedliche Bedeutungen, Perspektiven und Wahrnehmungen. Verstanden als religiös motiviertes, gewaltförmiges Phänomen benennt er für die westliche Welt eine, wenn nicht die zentrale politische und gesellschaftliche Herausforderung. Aus der Perspektive der Täter und ihrer potenziellen Mitstreiter wiederum ist islamistische Radikalisierung Motivation, Ziel und einzige Handlungsmaxime. Sie vollzieht sich in komplexen Prozessen, die – bei allen Fortschritten in der Radikalisierungsforschung – längst noch nicht erschöpfend ausgeleuchtet sind. Jannis Jost beschreibt in seinem Überblick über Ansätze und Eckpunkte der Radikalisierungsforschung bisherige Erkenntnisse und neue Ansätze. Deutlich werden dabei die Schwierigkeiten bei der Ergründung der Ursachen dafür, dass Menschen zu religiösen Fanatikern werden oder sich diesen anschließen, um Gewalt und Terror auszuüben. Unter den verschiedenen Möglichkeiten, sich der Frage nach den Ursachen der Radikalisierung zu nähern, hebt Jost den Faktor der Identität als vielversprechend hervor. Diese bildet sich im Zusammenspiel des Individuums, mit seinem sozialen Umfeld und den politischen Rahmenbedingungen heraus. 

Wie wichtig, aber auch wie schwierig es ist, islamisitische Radikalisierung zu verstehen, zeigt auch der Sammelband von Janusz Biene et al., der darauf zielt, alles vorhandene Wissen über Salafismus und Dschihadismus in Deutschland zusammenzutragen. Mit einer fallgestützten Analyse eines WhatsApp-Chats bieten Michael Kiefer et al. eine der ersten deutschsprachigen Untersuchungen zur Jugendradikalisierung in salafistischen Netzwerken. Ebenso befasst sich Fethi Benslama in seinem Buch Der Übermuslim mit der Frage, was junge Menschen in die Radikalisierung treibt. Die Beweggründe junger Frauen, sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen, werden in dem Buch „Dschihadistinnen – Faszination Märtyrertod“ beschrieben und mit den biografischen Besonderheiten in den Lebensläufen von Dschihadisten in den USA befasst sich Brian Michael Jenkins. Erhellende Erkenntnisse über die Bedeutung der Medienberichterstattung für den Radikalisierungsprozess bietet die Dissertation von Katharina Neumann. Das religiöse Fundament des Islamismus ist Gegenstand einer Sammelrezension von drei Büchern über den Zusammenhang von Religion und Gewalt. Bei der Frage nach den Ursachen der Radikalisierung sieht Olivier Roy die Bedeutung der Religion als überbewertet an und stellt psychologische Aspekte in den Vordergrund. Über die Motive der Täter bieten zudem zwei Bücher mit unterschiedlichen Zugängen tiefere Einsichten: Während Farhad Khosrokhavar sich über Täter-Biografien mit der individuellen Ebene befasst, analysiert Peter R. Neumann die Entwicklung dschihadistischer Organisationen. In seinem weiteren Buch „Der Terror ist unter uns“ beschreibt Neumann prägnant die verschiedenen Wellen des islamistischen Terrors, den er im Wesentlichen auf ein Bündel der fünf Faktoren Frust, Drang, Ideologie, Gruppen und Gewalt zurückzuführt. Neumann zeigt aber auch, dass die eigentliche Gefahr für Europas Gesellschaften nicht in terroristischen Anschlägen liegt, sondern in ihrer wachsenden Polarisierung. In welchen Ausprägungen sich Radikalisierung und Terrorismus in der Europäischen Union zeigen, wird in dem von Anna Sroka et al. herausgegebenen Band „Radicalism and Terrorism in the 21st Century“ aus vornehmlich polnischer und spanischer Perspektive analysiert. Michail Logvinov setzt sich kritisch mit dem Radikalisierunsparadigma der Terrorismusforschung auseinander und fordert eine stärkere Berücksichtigung von soziopoltischen Faktoren als Ursache für die Radikalsierung. Am Beispiel des Hamburger Stadtteils Wilhelmsburg untersucht Mustafa Acar den Zusammenhang zwischen kultureller und räumlicher Marginalisierung und Radikalisierungstendenzen unter türkischen Jugendlichen. Julia Ebner macht in ihrem Buch „Wut“ auf die Gemeinsamkeiten von Islamisten und Rechtsextemisten aufmerksam und zeigt, wie beide Gruppen voneinander profitieren und sich gegenseitig bestärken.

Ein Blick in die Geschichte des Islam führt den Religionswissenschaftler Michael Blume zu der Erkenntnis, dass die Ausbreitung islamistischer Ideen das Symptom einer schweren Krise des Islam ist, die der Autor auf eine Fehlentscheidung des osmanischen Sultans im Jahr 1482 zurückführt. In Schwarze Flaggen schildert Joby Warrick die Entstehungsgeschichte des Islamischen Staates (IS) und benennt die Gründe für den Aufstieg dieser Terrororganisation. Dessen ungeheure Brutalität steht im Mittelpunkt des Buches „Die Psychologie des IS“ von Jan Ilhan Kizilhan und Alexandra Cavelius, die anhand von Erfahrungserichten traumatisierter jesidischer Frauen und Kinder die Täterpsychologie herausarbeiten. Mit ihrem Buch „Politischer Islam. Stresstest für Deutschland“ möchte Susanne Schröter Hintergrundwissen zur Einordnung von muslimischen Vereinigungen vermitteln. Wie wir uns schützen können, zeigen zwei weitere Bücher, die wir zusammen vorstellen.

Die vielschichtigen Facetten der Radikalisierung wie auch der Prozess ihrer Erforschung werden zudem mit einer Auswahl an Kurzrezensionen aus der Annotierten Bibliografie der Politikwissenschaft verdeutlicht. Abgerundet wird diese Themenseite durch eine kleine Literaturschau über Handlungsempfehlungen für die Präventionsarbeit sowie einen Einblick in die Forschungslandschaft. Weitere Beiträge werden folgen.

 

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