Inwieweit war Russlands Anschluss der Krim historisch gerechtfertigt? Zur Problematik „realistischer“ Annexionsnarrative
08.06.2018Riesenrad für Kinder in Simferopol auf der Krim. Foto: © A.Savin, Wikimedia Commons
Im Sommer 2017 sorgte während des Bundestagswahlkampfs eine Aussage des Parteichefs der deutschen Liberalen, Christian Lindner, für Furore.1 Der Vorsitzende der Freien Demokratischen Partei (FDP) – bis dahin für ihre Befürwortung der Einhaltung des Völkerrechts und gesamteuropäischer Integration einschließlich der Ukraine bekannt2 – meinte, man solle die russische Annexion der Krim als ein „dauerhaftes Provisorium“ akzeptieren.3 Dieser Kommentar Lindners war letztlich nichts Besonderes, brachte der FDP-Chef damit doch nur eine Sichtweise zum Ausdruck, die stillschweigend von vielen, ja womöglich den meisten Politikern, Diplomaten und Journalisten Deutschlands und anderer westlicher Länder geteilt wird. Tatsächlich gehört Lindner – zumindest im politischen Kontext Deutschlands – bei Weitem nicht zu jenen, die dem Expansionismus des Kremls mit größter Nachsicht begegnen.
So erklärte etwa der ehemalige Ministerpräsident Brandenburgs und kurzzeitige Bundesvorsitzende der SPD, Matthias Platzek, Ende 2014, die Annexion der Krim durch Russland solle „nachträglich völkerrechtlich geregelt werden.“4 Alexander Gauland, Bundessprecher der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD), die im September 2017 in den Bundestag einzog, verlautete in jenem Sommer gar: „Die Krim ist nun einmal ur-russisches Territorium, und sie kann nicht zurück zur Ukraine.“5 Damit machte sich Gauland voll und ganz das irredentistische Narrativ des Kremls zu eigen. Die Ko-Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Bundestag, Sarah Wagenknecht, hatte bereits Anfang März 2014 die Bundesregierung aufgefordert, das Ergebnis des „Krim-Referendums“, welches die Annexion der Krim legitimieren sollte, zu akzeptieren, noch bevor dieses am 16. März 2014 stattfand.6
Expansionstoleranz im europäischen Mainstream
Der FDP-Vorsitzende war daher mit seinem seinerzeit skandalträchtigen Kommentar noch relativ moderat. Lindner erklärte lediglich, dass im Unterschied zum Streitpunkt Donbas (Donezbecken) die Rückgabe der Krim an die Ukraine ein langfristiges Projekt sei. Sein scheinbar pragmatischer Ansatz war offensichtlich nicht nur eine Reaktion auf die strikte Weigerung Moskaus, eine Rückgabe der Krim an die Ukraine auch nur zu erwägen, und darauf, dass die Annexion von vielen Russen begeistert aufgenommen wurde. Lindners Haltung ist symptomatisch für eine allgemeine Tendenz im politischen Establishment der EU, Nachsicht gegenüber russischem Imperialismus zu üben und dafür notfalls auch die tatsächliche Geschichte sowie heutige Lage der offiziell oder inoffiziell von Russland okkupierten Territorien zu ignorieren.
Wie unter anderem eine jüngere Analyse des European Council on Foreign Relations (ECFR) zeigte, gibt es eine Reihe etablierter EU-Parteien, die regelmäßig dubiose russische Positionen unterstützen oder zumindest tolerieren. Gustav Gressel vom Berliner ECFR-Büro stellte 2017 fest: „Diese Parteien bekennen sich uneingeschränkt zum westlichen Modell, zur offenen Gesellschaft, zu Freihandel, politischen Freiheiten, gesellschaftlicher Modernisierung und einem säkularen Staat. Aber sie treten zugleich für engere Beziehungen oder wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland ein, sie plädieren bei der ersten Gelegenheit für die Lockerung von Sanktionen, oder sie vertreten zweideutige Standpunkte, wenn es um die Frage geht, wie die europäische Sicherheitsarchitektur gestaltet werden sollte.“7
Die vom Kreml propagierte einhellige Unterstützung unter den Bewohnern der Krim und das Narrativ einer angeblich historisch gerechtfertigten Annexion sind daher nicht nur bei antiamerikanischen Publizisten und Politikern zu finden, sondern auch in den westlichen politischen Mainstream eingedrungen. Beide Argumentationslinien sind besonders populär unter den zahlreichen „Russlandverstehern“ in EU-Wirtschaftskreisen, osteuropakundlich unbedarften Salonexperten und bei Vertretern verschiedener populistischer Parteien, ob nun am rechten oder linken Rand.8 Sie blenden nicht nur die Tatsache aus, dass Moskaus handstreichartige Besetzung der Halbinsel ab Ende Februar 2014 der formalen Grenzverschiebung vorausging; somit waren nicht die so genannten „Unabhängigkeitserklärungen“ vom 11. und 17. März oder Russlands offizielle Annexion der Krim am 18. März 2014, sondern das vorherige russische, von Putin später ausdrücklich bestätigte militärische Eingreifen auf der Krim der wichtigste Völkerrechtsbruch.9 Zudem gibt es Hinweise darauf, dass das am 16. März 2014 von Russland auf der Krim organisierte „Referendum“ massiv gefälscht war und keinesfalls eine überwältigende Mehrheit der Krimbewohner die „Wiedervereinigung“ Russlands mit der Halbinsel unterstützt hat. Auch fallen die angeblich schwerwiegenden historischen Gründe für den russischen Anschluss der Krim bei näherer Betrachtung in sich zusammen.
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1Richard Herzinger: „Die FDP ist und bleibt eine Umfallerpartei“, Die Welt, 19. September 2017.
2Vgl. Andreas Umland: Der neue deutsche Außenminister und die europäische Perspektive der Ukraine, Ukraine-Nachrichten, 28. September 2009; https://ukraine-nachrichten.de/andreas-umland-neue-deutsche-au%C3%9Fenminister-europ%C3 %A4ische-perspektive-ukraine_1791#G5C6e1VwPdIKKYI2.99.
3„Dauerhaftes Provisorium“ Krim. Lindner will Moskau entgegenkommen, NTV, 5. August 2014. Abrufbar unter: www.n-tv.de/politik/Lindner-will-Moskau-entgegenkommen-article19969480.html.
4Ex-SPD-Chef Platzeck will Annexion der Krim anerkennen, Der Spiegel, 28. November 2014. Abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/ukraine-krise-matthias-platzeck-will-legalisierung-krim-annexion-a-1003646.html.
5AFD-Parteitag. „Die Krim ist nun einmal ur-russisches Territorium“, Die Welt, 17. Juni 2017.
6Sahra Wagenknecht warnt vor dem „dritten Weltkrieg“, Der Tagesspiegel, 12. März 2014. Abrufbar unter: www.tagesspiegel.de/politik/krim-krise-sahra-wagenknecht-warnt-vor-dem-dritten-weltkrieg/9605202.html
7Gressel 2017.
8Heinemann-Grüder 2015.
9Heintze 2014; Luchterhandt 2014a, 2014b; Marxsen 2014, 2015; Behlert 2015; Bílková 2015; Grant 2015; Singer 2015; Zadorozhnii 2016.
Der Beitrag ist erschienen in: SIRIUS - Zeitschrift für Strategische Analysen, Band 2, Heft 2, Seiten 162–169, ISSN (Online) 2510-2648, ISSN (Print) 2510-263X, DOI: https://doi.org/10.1515/sirius-2018-2006.