Historische Esoterik als Erkenntnismethode. Wie russische Pseudo-Wissenschaftler zu Moskaus antiwestlicher Wende beigetragen haben
17.04.2023
Hat die russische Sozialwissenschaft neben den Propaganda- und Desinformationskampagnen des Kremls dazu beigetragen, die nach Glasnost heranwachsende und hochgebildete Elite Russlands für eine Abkehr von Europa und den Angriffskrieg auf die Ukraine empfänglich zu machen? Andreas Umland untersucht für SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, wie verschwörungstheoretische, manichäische oder rassistische Theorien nach dem Vorbild von Denkern wie Lew Gumiljow und Alexander Dugin die intellektuelle und mediale Öffentlichkeit im postsowjetischen Russland zunehmend prägten. (tt)
Eine Analyse von Andreas Umland
Einleitung
Ein besonders dunkler Aspekt des russischen Vernichtungskrieges gegen die Ukraine und des geopolitischen Konflikts mit dem Westen ist dessen breite Unterstützung nicht nur unter „einfachen“ Russen, sondern auch von den Eliten des Landes. Nicht allein Wladimir Putin und sein Umfeld stehen hinter Russlands immer aggressiverer Außenpolitik.[1] Auch große Teile der russischen Staatsbürokratie, Professorenschaft, Kunst- und Kulturszene, pädagogischen Klasse sowie Zivilgesellschaft unterstützen zumindest partiell Russlands antiwestlichen Kurs und Angriff auf die Ukraine. Dieses Phänomen erinnert an die Weimarer Republik der Zwischenkriegszeit, in der ebenfalls Demokratie, Verwestlichung und Republikanismus von vielen Akademikern und Intellektuellen abgelehnt und untergraben wurden.[2]
Die normative Entfremdung weiter Teile der hochgebildeten russischen Bevölkerung von Europa hat verschiedene Gründe. Für viele an staatlichen Hochschulen und Forschungsinstituten beschäftigte Wissenschaftler mögen utilitaristische Erwägungen oder schlichtweg Angst vor der Regierung im Vordergrund stehen. Dieses Motiv dürfte bei zumindest einigen der mehr als 700 russischen Universitätsrektoren den Ausschlag gegeben haben, im März 2022 in einer gemeinsamen Erklärung die so genannte „militärische Sonderoperation“ in der Ukraine öffentlich zu billigen.[3]
Viele hochgebildete Russen scheinen jedoch die Aggression ihres Landes in der Ukraine nicht nur aus karrieristischen Gründen, sondern auch aus tiefstem Herzen zu unterstützen. Einige scheuen sich nicht, ihren Standpunkt wiederholt und unmissverständlich kundzutun. Das offenbart beispielsweise ein kürzlich erschienenes Interview der New York Times mit dem einst angesehenen Dekan der Fakultät für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Moskauer Wirtschaftshochschule (HSE), Sergej Karaganow, mit dem vielsagenden Titel „Warum Russland glaubt, dass es den Krieg in der Ukraine nicht verlieren kann.“[4]
1 Anders Åslund (2008): Putin’s Lurch toward Tsarism and Neoimperialism: Why the United States Should Care. Demokratizatsiya – The Journal of Post-Soviet Democratization, 16 (1), 17–25 10.3200/DEMO.16.1.17-26; Michel Eltchaninoff (2016): In Putins Kopf. Die Philosophie eines lupenreinen Demokraten. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.
2 Steffen Kailitz/Andreas Umland (2016): Why Fascists Took Over the Reichstag, But Did Not Capture the Kremlin. A Comparison of Weimar Germany and Post-Soviet Russia. Nationalities Papers, 45 (2), 206–221; Steffen Kailitz/Andreas Umland (2019): How Post-Imperial Democracies Die. A Comparison of Weimar Germany and Post-Soviet Russia. Communist and Post-Communist Studies, 52 (2), 105–115.
3 Dokumentation: „Erklärung der Russländischen Rektorenkonferenz“, in: Osteuropa, 4. März 2022.
4 Serge Schmemann: Why Russia Believes It Cannot Lose the War in Ukraine, New York Times, 19.7.2022, siehe auch: Boris Barkanov (2020): A Realist View from Moscow. Identity and Threat Perception in the Writings of Sergei A. Karaganov (2003–2019), Journal of Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 6(2), 57–112.
Historische Esoterik als Erkenntnismethode. Wie russische Pseudo-Wissenschaftler zu Moskaus antiwestlicher Wende beigetragen haben
SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen
Band 7 Heft. 1-2023, Seiten 3–10, https://doi.org/10.1515/sirius-2023-1003
Die Erstveröffentlichung des Textes erfolgte am 4. April 2023.
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Band 7 der Zeitschrift SIRIUS wird während des 30-jährigen Jubiläums der SW&D veröffentlicht. Die SW&D ist seit 30 Jahren tätig und verfolgt mit ihren Einrichtungen und Förderprojekten das Ziel, insbesondere die Politikwissenschaft bei der Lösung praktischer und normativer Probleme der Demokratie zu unterstützen.