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Geert Mak: Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums (1999-2019)

26.01.2021
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Autorenprofil
Dr. Michael Kolkmann
München, Siedler Verlag 2020
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke

Der bekannte niederländische Autor Geert Mak berichtet von seinen Reisen durch Europa. Dabei geht er der Frage nach, was seit 1999 in Europa passiert ist: „Was ist beim turbulenten Start ins 21. Jahrhundert mit der europäischen Welt geschehen?“ Damals sei der Kontinent voller Optimismus gewesen, doch mit dem 11. September 2001 und den folgenden Anschlägen in Madrid, London und Paris sei die europäische Welt ins Wanken geraten. Mak stellt die großen politischen Themen der vergangenen zwanzig Jahre dar und verbindet dabei persönliche Erfahrungen und Begegnungen mit politischen Trends.

Eine Rezension von Michael Kolkmann

Geert Mak zählt zu den bedeutendsten Sachbuchautoren der Niederlande, seit Langem werden seine Bücher auch in Deutschland publiziert. So hat er hierzulande etwa im Jahre 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten. Seine Bücher „Amerika“, in dem Mak auf den Spuren John Steinbecks (der im Jahre 1960 die USA gemeinsam mit seinem berühmten Pudel Charley durchquerte) wandelt, sowie „In Europa“, in dem er ein ganzes Jahrhundert europäischer Geschichte und Politik bilanziert, waren große Erfolge. Mit diesem Buch versucht er nun an letzteres Werk anzuknüpfen: „[E]s schreit geradezu nach einer Fortsetzung“ (14), wie Mak selbst bemerkt. Und er formuliert die grundlegende Frage der Publikation: „Was ist beim turbulenten Start ins 21. Jahrhundert mit der europäischen Welt geschehen?“ (ebenda).

Im Prolog beginnt Mak seine Reise durch Europa im Jahre 2018 in Kirkenes, einem 3.500 Einwohner starken Örtchen in Norwegen, einem „geopolitischen Brennpunkt“ (15), als „Tor nach Murmansk“ weniger als 50 Kilometer von der russischen Grenze gelegen sowie über den nördlichsten eisfreien Hafen Europas verfügend, der mit der arktischen Schifffahrtsroute von Asien nach Europa als Alternative zur Route über den Sueskanal künftig eine zentrale Rolle spielen wird: „[W]as ich jetzt am Anfang brauche, ist Abstand. Räumlicher Abstand, aber auch zeitlicher – soweit möglich. Es hat ja etwas Widersprüchliches, die Geschichte eines Zeitabschnitts, einer Welt, deren Teil man ist, zu schreiben, während man selbst mittendrin steckt. Geschichtsschreibung ist auf Abstand angewiesen, Zeit vergehen zu lassen ist immer noch die beste Art, Überblick zu gewinnen“ (14).

Auf insgesamt 642 Seiten berichtet Mak, Jahrgang 1946, von seinen Reisen durch ein vereintes und doch so oft getrenntes Europa. Geografisch spannt der Autor einen großen Bogen: von besagtem Kirkenes bis nach Lampedusa im Mittelmeer, vom isländischen Reykjavik bis nach Charkow und Odessa in der Ukraine, vom katalonischen Barcelona bis ins sächsische Niesky zieht es ihn – immer der Frage auf der Spur, was seit dem Jahr 1999 in Europa geschehen ist. Mit diesem Jahr setzt der Hauptteil des Buches nämlich ein, dem Jahr der Einführung des (Buch-)Euros, als der Kontinent voller Optimismus vibrierte. „Nie zuvor ging es den Bürgern, zumindest in der westlichen Welt, so gut wie heute“, schrieb damals die Zeitung De Telegraaf (vgl. 23). Es schien sich zu bestätigen, „was die Philosophin Hannah Arendt schon 1968 vorausgesagt hatte: dass alle Völker der Welt zum ersten Mal in der Geschichte in einer gemeinsamen Gegenwart leben würden“ (30). Mak greift zudem eine Einschätzung Tony Judts auf, der im Jahre 2009 befand, das 21. Jahrhundert könne das Jahrhundert Europas werden (vgl. 28).

Diese Ruhe von Konflikten und Krisen währte nur kurz – nämlich genau bis zum 11. September 2001, danach folgten die Anschläge von Madrid, London und Paris (vgl. 85 ff.): „und hier geht es nun um unsere Zeit, um diese ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts, in denen die Geschichtsfabrik wieder auf Hochtouren produziert und unsere geordnete europäische Welt des Friedens und verdienten Wohlstands erneut ins Wanken zu geraten scheint“ (14).

Mak erweist sich als Seismograf europäischer Befindlichkeiten; Ereignisse und Entscheidungen werden als historische Blitzlichter aufgegriffen und für die Analyse der Gegenwart nutzbar gemacht. Natürlich kommen die bekannten Wegmarken der Geschichte der europäischen Einigung vor. Damit gibt der Autor sich aber nicht zufrieden. Denn spannender sind fast immer die kleinen Dinge und Beobachtungen, mit denen Mak größere politische Zusammenhänge erhellt. Immer wieder nähert er sich zum Beispiel der europäischen Gegenwart über einen biografischen Zugang, etwa anhand der Lebensläufe und Karrierestationen so unterschiedlicher Akteure wie des polnischen Politikers Bronislaw Geremek, der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban oder des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Stets verbindet Mak persönliche Erfahrungen und Begegnungen mit größeren politischen Trends. Er greift dabei nicht nur Staatenlenker, Präsidenten und Regierungschefs, Schriftsteller und Wissenschaftler auf, sondern auch einfache Menschen auf den Straßen und Plätzen, in den Cafés und Restaurants, die Mak auf seinen Reisen frequentiert. Bezüge zu seinem eigenem (Er)Leben zieht Mak etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – in der Auseinandersetzung mit Gentrifizierungsprozessen in seiner Heimatstadt Amsterdam (353 ff.).

Naturgemäß steht im Buch die Geschichte und das aktuelle Erscheinungsbild der Europäischen Union im Fokus. Mit Luuk van Middelaar unterscheidet Mak drei Arten Europa: das der Staaten, der Bürger und der Behörden (163). Herausragend ist das Kapitel über die letzte dieser drei Dimensionen ausgefallen, das sich gewissermaßen als eine unausgesprochene Liebeserklärung an die „Brüsseler Blase“ (159) der häufig so bezeichneten „Eurokraten“ zwischen „Regelpolitik“ und „Ereignispolitik“ (wieder van Middelaar, vgl. 174) sowie „Theaterpolitik“ (175), in diesem Fall eine Mak‘sche Wortschöpfung, entpuppt.

Darüber hinaus finden die großen politischen Themen der vergangenen zwanzig Jahre Berücksichtigung: die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten, das Brexit-Referendum, die Wirtschafts- und Finanzkrise, die diversen Erweiterungsrunden der EU, das Scheitern des Verfassungsvertrages der EU, die so genannte Flüchtlingskrise, der Aufstieg (rechts)populistischer Parteien in Europa, regionale Konflikte wie etwa der in Katalonien oder die Balkankriege.

Immer wieder spricht Mak eine (fiktive) Geschichtsstudentin an, die im Jahre 2069 auf das Europa der ersten beiden Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts zurückschaut. Wie wird sie mit dem Abstand von mehreren Jahrzehnten auf das Europa der ersten beiden Dekaden dieses Jahrhunderts blicken? Welche Tendenzen und Entwicklungen werden dann noch bestimmend sein, welche werden überholt sein? „Eine besonders erfreuliche Lektüre wird es nicht sein, fürchte ich, aber auf jeden Fall eine interessante“ (14), fasst Mak seine Einschätzung zusammen.

Der Epilog des Buches, in dem er zu den Protagonisten seiner Geschichte(n) zurückkehrt, wird von der aufziehenden Corona-Krise überschattet. Dabei beschreibt er die Reaktion der einzelnen europäischen Länder wie der Europäischen Union und fragt nach den Konsequenzen der Krise für die Zukunft des europäischen Kontinents – alles auf dem Stand kurz vor der Drucklegung des Buches im Mai 2020. Für die Taschenbuchausgabe des Werks hoffen die geneigten Leser*innen auf ein aktuelles Vorwort des Autors zu den Ereignissen des (weiteren) Jahres 2020 – verbunden mit einer Einschätzung zu der Frage, wie er die berücksichtigten Aspekte seines Schlusskapitels aus heutiger Perspektive beurteilen würde.

Das bestimmende aktuelle Thema greift Mak nur am Rande, nämlich auf Seite 551 auf: die Fridays-for-Future-Bewegung rund um Greta Thunberg. Auch hier würde man sich wünschen, dass dem Thema in einer Neuauflage größerer Raum eingeräumt würde. Unabhängig von diesen Einschränkungen hat Geert Mak aber mit „Große Erwartungen“ ein Werk veröffentlicht, das sich zum idealen Schmöker für alle Geschichts- und Politikinteressierte im coronabedingten Lockdown eignet, da es anhand zahlreicher Episoden die zentralen Entwicklungslinien europäischer (und internationaler) Politik der vergangenen zwanzig Jahre nachzeichnet und zu einem Gutteil auch erklären hilft.

 

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Externe Veröffentlichung


Luuk van Middelaar
Vom Kontinent zur Union. Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa
Berlin: Suhrkamp 2016.


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