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Daron Acemoglu / James A. Robinson: Gleichgewicht der Macht. Der ewige Kampf zwischen Staat und Gesellschaft

03.03.2020
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Autorenprofil
Matthias Herb-Seifert
Frankfurt a. M., S. Fischer 2019

Mit einem 678 Seiten umfassenden Text, einem 29-seitigen bibliografischen Essay und 34-seitigen Literaturverzeichnis präsentiert sich der von Daron Acemoglu und James Robinson herausgegebene Band mit einem herausfordernden Umfang. Die beiden Autoren sind weltweit vor allem für ihre Studie „Warum Nationen scheitern“ bekannt, in der sie Gründe für wirtschaftliche (Miss)erfolge von Staaten benannt haben. Beide Autoren bringen unterschiedliche Perspektiven in die Analyse: Während Acemoglu Professor für Wirtschaftswissenschaften am MIT ist, zählt Robinson zu einem der weltweit führenden Experten für Entwicklungshilfe.

Das Thema des Bandes ist klar: „Dieses Buch handelt von der Freiheit und davon, wie und warum menschliche Gesellschaften sie errungen haben oder an dieser Aufgabe gescheitert sind“ (9). Die Autoren öffnen also im Vergleich zu ihrer früheren Arbeit den Fokus ihrer Untersuchung hin zu einer fast globalgeschichtlichen Untersuchung. Sie postulieren, dass Freiheit „nur entstehen und gedeihen kann, wenn sowohl der Staat als auch die Gesellschaft stark sind. Ein starker Staat wird benötigt, um die Gewalt zu kontrollieren. […] Eine starke, mobilisierte Gesellschaft wird benötigt, um den starken Staat zu kontrollieren und ihm Fesseln anzulegen“ (15). Nur wenn Staat und Gesellschaft einander einigermaßen ebenbürtig gegenüberstehen, könne Freiheit gedeihen. „Wir definieren Freiheit als die Abwesenheit von Dominanz, denn wer dominiert wird, kann keine freie Wahl treffen. […] Entscheidend ist, dass Freiheit nicht einfach nur die abstrakte Möglichkeit voraussetzt, sein Handeln selbst bestimmen zu können, sondern auch die Fähigkeit gegeben ist, diese Freiheit konkret ausüben zu können“ (25).

Den Ausgangspunkt ihrer Analyse bildet Hobbes‘ Leviathan. Dessen Konzeption bezeichnen sie allerdings als unvollständig: „Der erste Makel an Hobbes‘ Theorie ist die Vorstellung, der Leviathan habe nur ein einziges Gesicht. In Wirklichkeit ist der Staat janusgesichtig“ (40). Der Staat könne Konflikte lösen, öffentliche Güter und Dienstleistungen zur Verfügung stellen und wirtschaftliche Möglichkeiten schaffen. Er könne aber auch das Gesicht des despotischen Leviathans zeigen, Freiheitsrechte einschränken, Gewalt gegen seine Bürger anwenden und Gewinne einfach durch Korruption abschöpfen.

Wie die Autoren postulieren, könne der Leviathan im Grundsatz drei verschiedene Ausprägungen annehmen: die des abwesenden Leviathans, der sich, soweit er sich überhaupt in formalisierten Gesetzen und einer Bürokratie manifestiere, nicht für seine Bürger interessiere. Der abwesende Leviathan habe kein Interesse daran, Dienstleistungen für die Gesellschaft zu erbringen oder Konflikte zu schlichten. Anders verhalte es sich beim bereits erwähnten despotischen Leviathan. Er verfüge über eine fähige Bürokratie, effiziente und effektive Machtmittel, um seine Interessen durchzusetzen – und er richte seine Handlungen tendenziell eher nicht am Gemeinwohl aus. Stattdessen werde sein Handeln stärker von Partikularinteressen einzelner Gruppen oder Interessenkoalitionen geprägt. Zwischen diesen beiden Polen liege der aus Sicht der Autoren erstrebenswerte gefesselte Leviathan. „Das ist der Leviathan, der Konflikte fair löst, öffentliche Dienstleistungen bereitstellt, wirtschaftliche Chancen bietet und Dominanz verhindert und somit die Fundamente der Freiheit legt. Das ist der Leviathan, dem die Menschen, in der Überzeugung, ihn kontrollieren zu können, vertrauen, mit dem sie kooperieren und dem sie gestatten, leistungsfähiger zu werden“ (103).

Keiner der drei genannten Leviathane entwickele sich einfach so oder gar ohne Konflikt. Im Gegenteil, viele Gesellschaften seien einem stärkeren Staat zunächst eher abgeneigt, da er sie potenziell in ihrer – wahrgenommenen – Handlungsfreiheit beschränke. Acemoglu und Robinson argumentieren, dass sich der Leviathan immer nur im Wettstreit zwischen Staat und Gesellschaft entwickeln kann. Sie machen für diese Entwicklung den von ihnen als „Rote-Königin-Effekt“ bezeichneten Mechanismus verantwortlich. In Lewis Carrols‘ surrealistischem Roman sagt die Königin nach einem Wettrennen mit Alice: „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst“ (72).

Entsprechend definieren die Autoren die Wechselwirkung zwischen Staat und Gesellschaft: „Der Rote-Königin-Effekt bezeichnet eine Situation, in der man immer weiterrennen muss, nur um eine eingenommene Position beizubehalten, so wie der Staat und die Gesellschaft rennen müssen, um die bestehende Balance aufrechtzuerhalten. […] Wir brauchen die Konkurrenz durch die Gesellschaft, um den Leviathan in Schach zu halten, und je mächtiger und leistungsfähiger der Leviathan ist, desto mächtiger und wachsamer muss die Gesellschaft werden“ (72 f.).

Dieses Wettrennen könne sowohl auf staatlicher als auch auf gesellschaftlicher Seite beginnen, für beide Phänomene zeigen die Autoren entsprechende Beispiele auf. Wenn keine der beiden Seiten im Laufe des Prozesses zu stark werde, bewegten sich Gesellschaften in das, was die Autoren als Korridor bezeichnen. Dieser Korridor bezeichnet einen Raum in einem Koordinatensystem, das aus zwei Variablen besteht. „Die erste Variable bezieht sich darauf, wie stark eine Gesellschaft hinsichtlich ihrer Normen, Praktiken und Institutionen ist, insbesondere was kollektives Handeln, die Koordination ihrer Aktionen und ihre Kontrolle der politischen Hierarchie betrifft. Die zweite Variable steht für die Macht des Staates“ (104).

Vormoderne Gesellschaften, in denen weder Staat noch Gesellschaft stark sind, wären demnach links unten zu finden. Ganz rechts oben wäre der Platz von Staaten, deren hochentwickelte Bürokratie und Konfliktlösungsmechanismen einer pluralistischen, meinungsfreudigen und gut organisierten Gesellschaft gegenüberstehen – beispielsweise Deutschland, die Vereinigten Staaten oder auch Großbritannien. Innerhalb dieses Koordinatensystems gibt es aber nur einen schmalen Raum, den Korridor, innerhalb dessen der gefesselte Leviathan existieren könne, der Freiheit ermögliche.

Acemoglu und Robinson untersuchen anhand einer Fülle von Fallbeispielen verschiedene Aspekte, die mit ihrer Theorie zusammenhängen: So zeigen sie beispielsweise auf, warum aus Preußen ein despotischer Leviathan geworden sei, während die Schweiz trotz vergleichbarer Voraussetzungen einen gefesselten Leviathan erschaffen habe. Anhand der Vereinigten Staaten von Amerika zeigen die Autoren, dass ein Staat durchaus international dominieren könne, während es ihm nach innen nicht gelinge, alle seine Bürger vor Gewalt zu schützen. Auch den sogenannten Entwicklungsländern und dem Nahen Osten, deren spezifische Voraussetzungen häufig den Eintritt in den Korridor erschwerten, sind Kapitel gewidmet.

Bei ihrer Analyse nehmen Acemoglu und Robinson das große Ganze in den Blick, ihr Untersuchungszeitraum reicht vom Gilgamesch-Epos bis hin zu den Exzessen der US-amerikanischen Sicherheitsbehörden nach 9/11. Diese Bandbreite ist gleichzeitig Stärke und Schwäche des Buches. Einerseits können Acemoglu und Robinson anhand der gewählten Beispiele viele Aspekte ihrer Theorie überzeugend darlegen. Andererseits bleiben die Fallbeispiele gezwungenermaßen weiter an der Oberfläche, als es bei einer vergleichenden Untersuchung von nur drei oder vier Ländern der Fall wäre.

Grundsätzlich ist Christoph Dorner von der Süddeutschen Zeitung zuzustimmen, wenn er schreibt: „Der vergleichenden Politikwissenschaft vermögen Acemoglu und Robinson mit der Wiederbelebung des Begriffs Leviathan keine neuen Impulse zu verleihen. Hier sind Messungen wie der Demokratieindex der Zeitschrift The Economist schlicht nachvollziehbarer.“ Wahrscheinlich war das aber auch nicht der Anspruch der beiden Autoren. Bei ihnen steht der normative Impuls viel stärker im Vordergrund. Für sie ist das Leben innerhalb des Korridors kein Geschenk, sondern etwas, das immer wieder hart erkämpft und ausgehandelt werden muss. Gleichzeitig betrachten sie die Rechte und Freiheiten, die Menschen innerhalb des Korridors genießen, als etwas Elementares und wollen mit ihrem Band dazu beitragen, dass Gesellschaften leichter innerhalb des Korridors bleiben können. Dorner hat noch ein zweites Mal recht, wenn er abschließend bemerkt: „Als Großerzählung über Demokratie und Gewaltenkontrolle ist dieses kenntnisreiche Buch allerdings zu empfehlen.“1

Die beiden Autoren schließen mit einem ambivalenten Fazit: „Unsere These ist, dass das Kräftegleichgewicht zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen den Mächtigen und den weniger Mächtigen stets neu ausgehandelt werden muss, um es stabiler zu machen und das Abdriften aus dem Korridor zu verhindern.“ (678)

„Dennoch gibt es einen Hoffnungsschimmer, denn Menschen sind in der Lage, einen gefesselten Leviathan zu erschaffen, der Konflikte löst, keinen Despotismus praktiziert und die Freiheit fördert, indem er den Normenkäfig öffnet. […] Doch die Erschaffung – und die Kontrolle – eines Gefesselten Leviathans kostet Anstrengung und bleibt eine fortwährende Aufgabe, die mit Gefahr und Instabilität belastet ist“ (55).


Anmerkung

1 Christoph Dorner
Ein ewiger Kampf: Schmaler Pfad
Süddeutsche Zeitung, 26. November 2019

 

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Aus der Annotierten Bibliografie


Daron Acemoglu / James A. Robinson

Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter

Frankfurt a. M.: S. Fischer 2012; 608 S.; geb., 24,99 €; ISBN 978-3-10-000546-5
Trotz der umfänglichen Literatur zu Aufstieg und Absturz von Gesellschaften interpretieren Daron Acemoglu und James Robinson die Wirtschaftsgeschichte noch einmal neu, denn ihrer Ansicht nach reichen die Theorien zu kulturellen Einflüssen oder geografischen Faktoren nicht aus, um einzelne Entwicklungen zu erklären. Die beiden Ökonomen (MIT und Harvard) stellen die politischen Institutionen in den Mittelpunkt, die wiederum bestimmen, welche wirtschaftlichen Institutionen eine Gesellschaft hat. Un...weiterlesen

 

Steffen Hentrich / Sascha Tamm (Hrsg.)

Regeln für eine freie Gesellschaft. Ein James-Buchanan-Brevier

Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2014 (Meisterdenker der Freiheitsphilosophie); 91 S.; brosch., 18,- €; ISBN 978-3-03823-924-6
In politikwissenschaftlicher Perspektive ist der Wirtschaftsnobelpreisträger James M. Buchanan (1919‑2013) für einen demokratietheoretischen Beitrag interessant, der, aus der politischen Ökonomie kommend, als Public‑Choice‑Theorie bekannt geworden ist. In dem zusammen mit Gordon Tullock 1962 erstmals veröffentlichtem Buch „The Calculus of Consent. The Logical Foundations of Modern Democracy“ sowie in dem 1975 von ihm alleine geschriebenen Band „The Limits of ...weiterlesen

 

Thomas Hobbes

Leviathan. Aus dem Englischen übertragen von Jutta Schlösser. Mit einer Einführung und hrsg. von Hermann Klenner

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Die 1966 von Iring Fetscher herausgegebene deutsche Übersetzung des Leviathan von Walter Euchner hat sich als Standard-Übersetzung des Klassikers der neuzeitlichen Rechts- und Staatsphilosophie etabliert. An ihr wird die von Hermann Klenner besorgte Ausgabe der Neuübersetzung von Jutta Schlösser zu messen sein. Klenner bietet eine äußerlich sehr solide, den wissenschaftlichen Einstieg in das Werk erleichternde Studienausgabe. Das Vorwort schildert die Editionsgeschichte und führt durch die vor...weiterlesen

 

Thomas Hobbes

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Dass in der Reihe Studienbibliothek des Suhrkamp-Verlages der berühmte „Leviathan“ nicht fehlen darf, überrascht kaum. Prägnant formulierend kommentiert Waas diesen klassischen Text der politischen Philosophie. Er schildert nicht nur dessen spannende Entstehungsgeschichte vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkrieges, versieht den Text mit einem systematischen Kommentar und analysiert die beiden ersten Bücher, sondern legt auch eine in deutscher Sprache kaum zu findende Rezeptions...weiterlesen

 

Maurizio Bach (Hrsg.)

Der entmachtete Leviathan. Löst sich der souveräne Staat auf?

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