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Gerhard Besier / Katarzyna Stokłosa (Hrsg.)

Geschichtsbilder in den postdiktatorischen Ländern Europas. Auf der Suche nach historisch-politischen Identitäten

Berlin: Lit 2009 (Mittel- und Ostmitteleuropastudien 9); 185 S.; brosch., 19,90 €; ISBN 978-3-643-10230-0
In postdiktatorischen Staaten besteht häufig in besonderer Weise die Versuchung, Geschichte für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Gerade junge Demokratien tendieren dazu, die Nationalgeschichte patriotisch einzufärben. Dieser Thematik ist der Sammelband gewidmet. Olga Novikova untersucht die Konstruktion alternativer Erinnerungsformen zur Zeit der Sowjetunion und den Transitionsprozess der post-sowjetischen Zeit. Sie unterteilt den Prozess der Entstalinisierung in vier Phasen: die Ära des Tauwetters nach Stalins Tod, eine Phase der Stagnation in der Aufarbeitung, die Perestrojka und die Zeit nach 1990. Dabei betont sie jedoch auch die Grenzen der Aufarbeitung, denn die meisten der berühmten Opfer der Moskauer Prozesse in den Jahren 1936/37 seien niemals rehabilitiert worden. Pointiert arbeitet sie ein Problem der jüngsten Vergangenheit heraus. Demnach habe der historische Diskurs zur Zeit der Perestrojka die hergebrachten Rollen in der Geschichtsschreibung vertauscht: die Kommunisten wurden zu Konservativen und die Weißen, die Vertreter der etablierten Ordnung des alten Russland, zu den Kämpfern der Freiheit gemacht. Dies, so führt Novikova aus, werde jedoch der Komplexität des Geschehens keineswegs gerecht. Die Geschichte werde auf diese Weise in der Art eines liberalen Mythos als Kampf zwischen Despoten und Freiheitshelden inszeniert. Katarzyna Stokłosa untersucht die Geschichtspolitik im Prozess der polnischen Transformation. Dabei formuliert sie bereits eingangs sehr deutlich, dass die Geschichtsvermittlung in Polen auch heute nach wie vor auf einer traditionellen Sichtweise der Geschichte der eigenen Nation beruhe: „Deren Ziel ist es, den Patriotismus der Kriegs- und Gefahrenzeit zu pflegen, anstatt einen Patriotismus des Friedens und der bürgerlichen Freiheiten.“ (94) Eine negative Rolle bescheinigt sie in diesem Zusammenhang der Politik der Kaczyńskis. Stokłosa plädiert für die Etablierung eines gesamteuropäischen Gedächtnisses, um so „die europäische Identität zu stärken und die nationale eher in den Hintergrund treten zu lassen“ (101).
Timo Lüth (TIL)
Student, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.23 | 2.61 | 2.62 Empfohlene Zitierweise: Timo Lüth, Rezension zu: Gerhard Besier / Katarzyna Stokłosa (Hrsg.): Geschichtsbilder in den postdiktatorischen Ländern Europas. Berlin: 2009, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/31799-geschichtsbilder-in-den-postdiktatorischen-laendern-europas_37901, veröffentlicht am 16.03.2010. Buch-Nr.: 37901 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken