David Knollmann: Gescheiterte Kernenergiepolitik. Politische Veränderungsprozesse in Deutschland und den USA

17.04.2019
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Autorenprofil
Martin Repohl, M.A.
Baden-Baden, Nomos Verlag 2018

Mit der Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011 wurde in Deutschland endgültig der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie, einer einstigen Zukunftstechnologie, besiegelt. Öffentliche Proteste infolge des Super-GAUs in Japan bewegten das Kabinett Merkel II nicht nur, den proklamierten Ausstieg aus dem bereits unter der rotgrünen Bundesregierung beschlossenen Atomausstieg zu revidieren und ein spektakuläres politisches Wendemanöver zu vollziehen, sondern auch die Energiewende in Deutschland deutlich auszubauen. Doch waren die unübersehbaren Gefahren der Kernkraft tatsächlich der zentrale Faktor für den Abschied von dieser Technologie, wie das weit verbreitete Narrativ nahelegt? Der Politikwissenschaftler David Knollmann zieht diese geläufige Erklärung in Zweifel. In seiner Dissertation, die 2017 an der Universität Siegen angenommen wurde, zeigt der Autor, dass dieses Argument mit Blick auf die Geschichte der deutschen und amerikanischen Kernenergiepolitik zu kurz greift.

Knollmann legt eine umfassende Studie zur Politik der zivilen Atomkraft vor und arbeitet überzeugend heraus, dass die Geschichte der Kernenergienutzung zugleich die eines mehrfachen Politikversagens ist, das durch die Katastrophen von Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima zwar nicht ausgelöst, aber katalysiert wurde. Dabei widmet sich der Autor der folgenden Fragestellung: „Warum kam die Expansion der Kernenergienutzung in den USA und Westdeutschland nahezu zum gleichen Zeitpunkt zum Halt und welche Faktoren und Prozesse – wenn nicht Katastrophenereignisse – waren dafür kausal verantwortlich?“ (25)

Mit dieser Arbeit will Knollmann „eine vergleichende, theoriegeleitete und primär qualitative Policy-Analyse der Kernenergiepolitik in Deutschland und den USA [präsentieren]. Die Studie weist einen Längsschnittcharakter auf und hat den Anspruch, die Evolution der Kernenergiepolitik von ihren Angängen nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute zu untersuchen“ (25). Mit der überaus ambitionierten Zielsetzung schließt der Autor eine wesentliche Lücke in der politikwissenschaftlichen Forschung zur Atomkraft, die sich vor allem durch die kleinteilige Fokussierung von Einzelaspekten auszeichnet. Um den holistischen Anspruch seiner Policyanalyse einlösen zu können, verwendet er die von Bryan D. Jones und Frank R. Baumgartner entwickelte Punctuated Equilibrium Theory (PET). Dieser Ansatz der Politikfeldanalyse „interessiert sich als Theorie politischer Veränderungen insbesondere für die Untersuchung sehr langer Zeiträume […]. Sie versucht dabei insbesondere den Wechsel zwischen langen Phasen inkrementellen und kurzen Phasen radikalen Wandels zu verstehen“ (31). Der Erklärungsansatz folgt dabei der Logik, dass das Gleichgewicht eines Policy Subsystems, also eines Teils von der öffentlichen Wahrnehmung abgeschotteten Netzwerks, durch externe Ereignisse und zunehmende Öffentlichkeit gestört, das heißt punktiert wird und so ein Wandel der Policy einsetzt. Als Forschungsheuristik eignet sich dieser Ansatz insbesondere für die Modellierung komplexer Dynamiken in Längsschnittperspektive und ist anschlussfähig an quantitative Erhebungen wie etwa die Budgetanalyse, welche der Autor ebenfalls in seine umfassende Untersuchung einbezieht.

Knollmann gelingt es mithilfe dieses Ansatzes und einer sehr breiten Quellenbasis, eine detaillierte Analyse der deutschen und US-amerikanischen Kernenergiepolitik durchzuführen, die einige erstaunliche Konvergenzen zutage fördert. So zeichnet sich die Kernenergiepolitik in ihrer ersten Phase bis Ende der 1970er-Jahre in beiden Staaten durch ähnliche Dynamiken aus. Die Etablierung und Expansion der zivilen Kernenergie war beiderseits des Atlantiks keine energiepolitische Notwendigkeit, etwa um mögliche Versorgungsengpässe zu schließen, sondern das Projekt eines Netzwerkes aus Wissenschaftlern, Bürokraten und Politikern, die gezielt die zivile Nutzung der Kernkraft forcierten und dafür zunächst Widerstände in Gesellschaft und Ökonomie überwinden mussten. Getragen vom Technikoptimismus der 1950er- und 1960er-Jahre gelang es, die Kernkraft als Inbegriff von Zukunftstechnologie zu ‚framen‘ und so dem bösen Atom der Atombomben das gute Atom der vermeintlich sauberen Energienutzung zur Seite zu stellen. Entlang der Annahmen der PET interpretiert der Autor diese Dynamik als nahezu idealtypisches Beispiel für die Etablierung eines stabilen Policy Subsystems, das weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit das Entscheidungsmonopol zur Kernkraft innehatte. Doch mit der Expansion der Kernkraft kam es auch zu einer Diffusion von Expertenwissen in die öffentliche Debatte, wodurch diese zunehmend kritisch betrachtet wurde. Anhand von Budgetanalysen weist der Autor detailliert nach, dass die großen Katastrophen von Harrisburg und Tschernobyl zwar katalytisch für die öffentliche Kritik der Kernkraft waren, politisch jedoch bereits einige Zeit zuvor ein Bedeutungsverlust zu beobachten war. Dieser setzte sich in den weiteren Jahren bis heute fort, trotz verschiedener Versuche der Etablierung einer nuklearen Renaissance.

Anhand seiner umfassend und überaus detaillierten Analyse kommt der Autor zu interessanten Ergebnissen, die auf den ersten Blick kontraintuitiv erscheinen. Knollmann zeigt, dass trotz wesentlicher Unterschiede bis heute die deutsche und US-amerikanische Kernenergiepolitik im Wesentlichen isomorph sind. So konnte in beiden Ländern der Bedeutungsverlust der Kernenergie weder gestoppt noch gewendet werden. Hingegen vollzieht sich hier wie dort der unabwendbare Ausstieg aus dieser Technologie: in Deutschland abrupt, in den USA in Zeitlupe.

Es gelingt Knollmann auch, die Bedeutung der großen Atomkatastrophen aus politikwissenschaftlicher Perspektive einer Revision zu unterziehen: Als Katalysatoren der öffentlichen Debatte waren sie ohne Zweifel wichtig, aber dennoch nicht kausal für die Störung des Policy-Gleichgewichtes. Dieses war erstaunlich persistent gegenüber äußeren Faktoren und wurde vielmehr durch technologieinhärente Faktoren gestört. Knollmann leistet mit dieser Studie eine so umfassende wie interessante und überaus detaillierte Darstellung der Kernenergiepolitik, die die explanatorischen Möglichkeiten der Policyforschung ausreizt. Er demonstriert damit, dass die Atompolitik einer vielschichtigen Dynamik folgt, die sich zum Teil der öffentlichen Wahrnehmung entzieht und nicht unbedingt verbreiteten Ansichten entsprechen muss – was diese Arbeit umso lesenswerter macht.

 

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Literatur


Carl Friedrich von Weizsäcker
Atomenergie und Atomzeitalter: Zwölf Vorlesungen
Frankfurt a. M., Fischer Verlag 2016

 

Winfried Koelzer
Lexikon zur Kernenergie
Karlsruhe, KIT Scientific Publishing 2019



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