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Walter Schmitt Glaeser

Ethik und Wirklichkeitsbezug des freiheitlichen Verfassungsstaates

Berlin: Duncker & Humblot 1999 (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte 25); 112 S.; 48,- DM; ISBN 3-428-09944-3
Die Publikation geht auf einen Vortrag zurück, den der Autor vor der Österreichisch-Deutschen Kulturgesellschaft im April 1999 in Wien gehalten hat. Schmitt Glaeser zufolge sind die unabdingbaren Grundwerte des freiheitlichen Verfassungsstaates Frieden, Sicherheit und Freiheit. Diese Grundwerte sind aber gefährdet, weil die meisten Bürger nicht nur traditionelle Wertorientierungen, sondern auch andere, aus staatlicher Sicht existentielle Grundwerte in Frage stellen. Die Freiheit wird ihm zufolge zunehmend als Freiheit zur Beliebigkeit mißverstanden und die dem Staat eigene Gewährleistung von Frieden und Sicherheit sowie die Schutzpflicht für das Leben werden nicht mehr fraglos akzeptiert (25). Der Autor will mit seinem Beitrag zum einen diese vermeintlichen Gefährdungen analysieren und zum anderen konkrete Überlegungen darüber anstellen, ob es praktikable Möglichkeiten gibt, um diesen Gefährdungen entgegenzutreten. Er kommt zu folgender Lösung: Da für den Typus des liberalen Rechtsstaates gilt, daß verschiedene durchaus konträre Wertesysteme nebeneinanderstehen und es an einer gemeinsamen Rangordnung der Werte fehlt, sind auch die Bürger nicht selbst verantwortlich für ihr Fehlverhalten, sondern vielmehr die Ausgestaltung des politischen Systems und das Verhalten der politischen Eliten, die ihrerseits ein wertorientiertes Verhalten und eine - Fehlverhalten korrigierende - gesetzgeberische Tätigkeit vermissen lassen. Dies führt Schmitt Glaeser darauf zurück, daß die politischen Eliten die Wirklichkeit mißachten bzw. nicht dazu bereit sind, sich von der Wirklichkeit unvoreingenommen belehren zu lassen. Daher kann der Bürger bestimmte Grundwerte im politischen Prozeß auch nicht mehr abgebildet finden. Es sei nicht mehr möglich zu lernen, daß es sich lohnt, das Leben an Werten auszurichten. Schmitt Glaeser schlägt daher vor, die Wirklichkeitsnähe der Politik zu fördern (95). Weil die Bereitschaft, sich von der Wirklichkeit belehren zu lassen, von den Politikern nicht aufgebracht werde, dränge sich die Frage auf, inwieweit die Politik noch den Politikern überlassen bleiben könne (95 f.). Der Autor plädiert dafür, eine zweite Kammer als zusätzliches, autonomes Organ der Gesetzgebung, die ausschließlich mit Experten besetzt sein sollte, einzurichten. Der Schwerpunkt der Tätigkeit dieser zweiten Kammer sollte in der Beratung liegen. Um zu verhindern, daß das "politische" Parlament nur Ratschläge aufgreift, die ihm genehm erscheinen, sollte die zweite Kammer über ein Vetorecht gegen vom Parlament beschlossene Gesetze verfügen (100). Eine solche Argumentation muß aus mehreren Gründen zu Einspruch anregen. Erstens ist nicht immer klar, um was es dem Autor eigentlich geht. So beschäftigt sich die Darstellung von Kapitel I. bis Kapitel III.2. mit der Analyse des Wertewandels an sich. Das eigentliche Problem, um das es jedoch geht, besteht in dem Fehlverhalten von politischen Eliten, den institutionellen Voraussetzungen dafür und dem Einfluß, den diese Faktoren auf das Verhalten der Bevölkerung ausüben. Zweitens kann Schmitt Glaesers Reformvorschlag nicht überzeugen, denn er läßt zu viele Fragen offen: Gibt es heute nicht bereits genügend Expertenwissen, das Politikern zur Verfügung steht? Sollte man den Willensbildungsprozeß nicht effizienter anstatt komplizierter gestalten? Welche Verwendung hat Schmitt Glaeser noch für den Bundesrat? Und vor allem: Wie wahrscheinlich ist es, daß sich eine solche Kammer vom Einfluß der Parteien freimachen kann? Ist es nicht wahrscheinlich, daß das "Expertenwissen" im politischen Prozeß unter parteipolitischen Gesichtspunkten instrumentalisiert wird? Aus dem Inhalt: A. Die Ambivalenz der pluralistischen Gesellschaft: I. Gegenbild zum Totalitarismus; II. Orientierungsdefizite als Ordnungslogik. B. Die pluralistische Gesellschaft im freiheitlichen Verfassungsstaat: I. Der freiheitliche Verfassungsstaat als moderner Staat; II. Der moderne Staat als freiheitlicher Verfassungsstaat; III. Freiheit als ethischer Mittelpunkt und offene Flanke des freiheitlichen Verfassungsstaates; IV. Verlorene Selbstverständnisse. C. Das Vermögen des freiheitlichen Verfassungsstaates zur Förderung selbstverantwortlicher Freiheit: I. Maßnahmen des Staates zur Pflege ethischer Kultur; II. Der gefährdete freiheitliche Verfassungsstaat und die Suche nach einer Lösung; III. Die Mißachtung der Wirklichkeit und die Überforderung der Bürger; IV. Wirklichkeitsverweigerung als konkrete Utopie. D. Der Versuch einer Lösung: I. Sachverstand als Bedingung wirklichkeitsbezogener und sachrichtiger Politik; II. Der praktische Vorschlag; III. Zu erwartende Folgen.
Sven Christian Singhofen (SCS)
M. A., Doktorand, Institut für Sozialwissenschaft (Bereich Politikwissenschaft), Universität Kiel.
Rubrizierung: 2.32 | 5.41 | 5.44 Empfohlene Zitierweise: Sven Christian Singhofen, Rezension zu: Walter Schmitt Glaeser: Ethik und Wirklichkeitsbezug des freiheitlichen Verfassungsstaates Berlin: 1999, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/11281-ethik-und-wirklichkeitsbezug-des-freiheitlichen-verfassungsstaates_13363, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 13363 Rezension drucken