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Erweiterte Abschreckung in Asien. Aktuelle Lehren für Europa

15.03.2018
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Michael Rühle

war memorialSüdkoreanische Armeeangehörige in traditioneller Kleidung bei einem Empfang des damaligen US-Verteidigungsministers Robert Gates und der Außenministerin Hillary Clinton am Kriegsdenkmal in Seoul, 21. Juli 2010. (Foto: Cherie Cullen / U.S. Department of Defense)

 

1. Einleitung: nukleare Verirrungen

Mit dem Test einer neuen Langstreckenrakete erklärte sich Nordkorea im November 2017 einmal mehr zur „vollständigen“ Atommacht. Das Land, so die offizielle Verlautbarung aus Pjöngjang, sei nun im Besitz einer Interkontinentalrakete, die das ganze Territorium der Vereinigten Staaten erreichen könne. Die US-amerikanische Politik der „erweiterten Abschreckung“ für die asiatischen Verbündeten ist damit noch stärker unter Druck geraten. Die nuklearen Ambitionen Nordkoreas wie auch die zunehmend selbstbewusste Außenpolitik Chinas werfen bereits seit Jahren Fragen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des nuklearen „commitment“ der USA gegenüber Japan und Südkorea auf. Mit der Amtsübernahme durch Donald Trump, der die globalen Bündnisverpflichtungen seines Landes zunächst zu relativieren schien, und mit der Zunahme der politisch-militärischen Provokationen Nordkoreas hat sich die Lage im Laufe des Jahres 2017 erheblich zugespitzt. Das Resultat ist die dramatische Zunahme von Stimmen aus Asien wie auch aus den USA, die eine nationale nukleare Option für Japan und Südkorea für den Fall fordern, dass die Vereinigten Staaten den Schutzverpflichtungen diesen Verbündeten gegenüber nicht mehr glaubwürdig nachkommen können. Damit ist die erweiterte Abschreckung einmal mehr zum Dreh- und Angelpunkt US-amerikanischer Ordnungspolitik geworden – auch und gerade als Instrument zur Einhegung der nuklearen Proliferation.

Die neuerliche Konzentration auf die Bedeutung der erweiterten Abschreckung markiert zugleich das vorläufige Ende der analytischen Irrfahrt eines Teils der westlichen strategic community, die vor rund einem Jahrzehnt begonnen hatte. Um dem Ziel einer Abschaffung nuklearer Waffen analytisch den Weg zu ebnen, war ein Teil der Forschung zur fragwürdigen politischen Agitation degeneriert. Die Grenzen zwischen Nonproliferationsforschung und antinuklearem Aktivismus verwischten zusehends. Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit einem neuen historischen Revisionismus, der die Bedeutung von Nuklearwaffen und nuklearer Abschreckung aus den internationalen Beziehungen regelrecht hinauszudefinieren versuchte. Das faktische Scheitern von US-Präsident Barack Obamas nuklearer Abrüstungsagenda, aber auch der neue russische Militarismus und eine immer deutlicher militärisch unterfütterte Außenpolitik Chinas haben dazu beigetragen, dass die analytischen Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre an Wirkung verlieren. Der wichtigste Faktor, der dazu beiträgt, dass die Nichtverbreitungsdebatte wieder vom Kopf auf die Füße gestellt wird, ist die nukleare Dauerkrise um Nordkorea. Sie enthält überdies zahlreiche Lehren, die zugleich als Wegweiser für einen aufgeklärten Umgang Europas mit dem schwierigen Thema der nuklearen Abschreckung dienen können. Denn auch in Europa, dem zweiten regionalen Schwerpunkt US-amerikanischer Bündnispolitik, hat die Tendenz, nukleare Fragen nur noch im Kontext von Abrüstungsvisionen zu verorten, dazu geführt, dass Probleme nuklearer Abschreckung kaum noch sachgerecht debattiert werden.


2. Extended Deterrence: politischer Ordnungsfaktor und intellektuelle Herausforderung

Das Prinzip der erweiterten Abschreckung, demzufolge ein Kernwaffenstaat nukleare Abschreckung auf seine Verbündeten ausdehnt, ist nahezu seit dem Anbruch des Nuklearzeitalters ein zentrales Merkmal der US-amerikanischen Sicherheits- und Bündnispolitik. Mehr als 30 Staaten verlassen sich heute auf den nuklearen Schirm der USA, darunter die Mitglieder der NATO sowie Südkorea und Japan. Aber auch einige andere Staaten, die keine formellen Beistandszusagen genießen, werden aufgrund entsprechender US-amerikanischer Aussagen zum Kreis der nuklear geschützten Verbündeten gezählt, so etwa Australien, Israel und Taiwan. Für die USA war diese „erweiterte Abschreckung“ nie allein ein Instrument der globalen Friedenssicherung, sondern stets auch ein Instrument der nuklearen Nichtverbreitung. Der amerikanische Schutzschirm befriedigte die Sicherheitsinteressen der Verbündeten und nahm ihnen so das Motiv, eigene Kernwaffen zu entwickeln.

Die der erweiterten Abschreckung zugrunde liegende Vorstellung, ein Kernwaffenstaat werde Nuklearwaffen auch dann einsetzen, wenn er selbst verwundbar ist gegen die Atomwaffen des Staates, den es abzuschrecken gilt, ist von vielen Beobachtern regelmäßig als politische Fiktion kritisiert worden. Wenn ein Einsatz von Nuklearwaffen einen nuklearen Gegenschlag zur Folge haben würde, trüge die Erfüllung dieser weitreichenden Bündnisverpflichtung selbstmörderische Züge. Aus diesem Grund, so viele Kritiker, sei die erweiterte Abschreckung prinzipiell unglaubwürdig oder gar eine „Zwangsjacke“, die weitreichende Abrüstung verhindere. Andere erblickten darin für die USA ein enormes Risiko, das es abzustreifen gelte. In der politischen Praxis jedoch spielte diese Kritik bislang nie eine entscheidende Rolle. Die Anpassungen, die die NATO vornahm, nachdem die USA gegen sowjetische Atomwaffenschläge verwundbar geworden waren, waren zwar umstritten, aber dennoch mehr oder weniger gut geeignet, das Abschreckungskalkül auf sowjetischer Seite zu beeinflussen. Vieles war dabei auch politische Psychologie. Das vielzitierte Bonmot des britischen Verteidigungsministers Denis Healey, es bedürfe nur fünf Prozent Glaubwürdigkeit, um die Sowjetunion abzuschrecken, aber 95 Prozent, um die Verbündeten zu beruhigen, deutete die hohen politischen und militärischen Glaubwürdigkeitsprobleme an, die einem solchen Konzept innewohnten. Für Washington wie für seine Verbündeten bot die erweiterte Abschreckung politisch und militärisch jedoch so große Vorteile, dass keiner von ihnen diese aufs Spiel setzen wollte.
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Der vollständige Aufsatz ist erschienen in: SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Band 2, Heft 1, Seiten 42–51: https://www.degruyter.com/view/j/sirius.2018.2.issue-1/sirius-2018-0005/sirius-2018-0005.xml?format=INT

 

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Rezension

Matthias Naß

Countdown in Korea. Der gefährlichste Konflikt der Welt und seine Hintergründe

München, C. H. Beck 2017

Nordkorea testet fortlaufend seine Raketen und hat mutmaßlich erfolgreich eine Wasserstoffbombe gezündet, US-Präsident Donald Trump dem Land die Vernichtung mit „Feuer und Zorn“ angedroht. Die Weltgemeinschaft muss fürchten, am Rande eines Atomkriegs zu stehen. Der Journalist Matthias Naß rekapituliert die Genese dieses seit Jahrzehnten schwelenden Konflikts und zeigt die Interessen der involvierten Akteure auf. Auf der Grundlage seiner eigenen Recherchen und wissenschaftlicher Analysen zeichnet er das Bild einer eskalierenden Konfrontation, die dennoch nur politisch zu lösen sein wird.
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zum Thema

Nordkorea: Die Bedrohung des Weltfriedens

zur Website von

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