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Stephan Lamby: Entscheidungstage. Hinter den Kulissen des Machtwechsels

24.11.2021
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Autorenprofil
Dr. Michael Kolkmann
München, Verlag C. H. Beck 2021

BTW-Schwerpunkt: Gespaltene Gesellschaft

Das Buch des Journalisten und Filmautors Stephan Lamby lässt den Bundestagswahlkampf 2021 nochmals Revue passieren, schreibt Rezensent Michael Kolkmann. Denn Lamby habe die ihn prägenden Personen Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz über viele Monate begleitet. So sei, „ein eindringliches Bild deutscher Politik im Ausnahmemodus“ entstanden. Lamby thematisiere auch längerfristige Tendenzen deutscher Politik, sodass er mit „Entscheidungstage“ insgesamt „eine Studie über die Bestimmungsfaktoren bundesdeutscher Politik im 21. Jahrhundert“ vorgelegt habe. (ste)

Eine Rezension von Michael Kolkmann

In „Entscheidungstage“ lässt der Journalist und Filmautor Stephan Lamby den Bundestagswahlkampf 2021 nochmals Revue passieren. Seit Dezember 2020 hat Lamby mit Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz die drei Personen begleitet, die den Wahlkampf 2021 geprägt haben. Dazu hat er unzählige Gespräche mit den Kanzlerkandidaten, aber auch mit anderen politischen Akteuren sowie Vertretern der Medien geführt. Er zeichnet ein eindringliches Bild deutscher Politik im Ausnahmemodus. Abgesehen von der alles überlagernden Herausforderung der Corona-Pandemie, die in den Worten von SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil alle Beteiligten zwang, „Wahlkampf auf einem komplett weißen Blatt Papier neu zu denken“ (45), war die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag die erste Bundestagswahl, bei der kein Amtsinhaber zur Wiederwahl stand. Zudem war das Rennen zwischen den Parteien im Vorfeld der Wahl so offen wie selten, und auch mit Blick auf die künftige Regierungskonstellation waren lange Zeit vielfältige Möglichkeiten denkbar.

Joschka Fischer hat das Kanzleramt einmal, darauf weist Lamby zu Beginn seines Buches hin, als „Todeszone der Politik“ (15) bezeichnet. In genau diese „Todeszone“ vermittelt Lamby spannende aktuelle Einblicke. Er betont eingangs, dass er als Dokumentarfilmer einen anderen Blick auf Politik habe als jene, die auf täglicher Basis den Hauptstadtbetrieb beobachten und sezieren (vgl. 13). Seit 1998 hat er alle Bundestagswahlkämpfe als Chronist begleitet – und das kommt dem Buch auf vielfältige Art und Weise zugute.

Deutlich wird während der Lektüre, wie innerhalb der Wahlkampfsaison die Dynamik der politischen Auseinandersetzung gleich mehrfach wechselte. War im März und April allgemein davon ausgegangen worden, dass nach der Bundestagswahl, basierend auf den damaligen Umfragewerten, vermutlich eine schwarz-grüne Bundesregierung gebildet werden würde, so gelangten die Grünen mit der Nominierung von Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin im Frühsommer in die Offensive, um direkt anschließend durch diverse Fehltritte und deren Echo in Medien und sozialen Netzwerken wieder ausgebremst zu werden. Die Union gelangte mit ihrem Kanzlerkandidaten Armin Laschet zurück an die Spitze der Umfragen, bis ab etwa Mitte August die SPD unter Olaf Scholz langsam, aber sicher die Union überholen konnte und diese Position bis zum Wahltag nicht mehr aufgab, auch wenn CDU und CSU kurz vor dem Termin der Bundestagswahl noch einmal aufholen konnten. Die wichtigsten (politisch relevanten) Stationen des Jahres lässt Lamby nochmals en détail Revue passieren: die Niederlage von Olaf Scholz bei der Kür der neuen Parteivorsitzenden der SPD sowie dessen Comeback als Kanzlerkandidat, die intern ausgemachte Entscheidung bei Bündnis90/GRÜNEN, mit Annalena Baerbock an der Spitze und nicht Robert Habeck in den Wahlkampf zu ziehen, der nahezu endlose Kampf in der CDU um den Parteivorsitz, später dann, gemeinsam mit der CSU, die Auseinandersetzung um die Kanzlerkandidatur, die TV-Trielle, die Flut im Ahrtal und darüber hinaus, die Maskendeals von Bundestagsabgeordneten und vieles mehr.

All diese Entwicklungen und Ereignisse beeinflussten den Ausgang der Bundestagswahl in unterschiedlichem Maße. Lamby betont in diesem Kontext die Volatilität von Wahlkämpfen: „In fast allen Wahlkämpfen gibt es entscheidende Augenblicke, in denen sich für eine Partei eine positive Dynamik einstellt – oder eben eine negative. Manchmal sind es nur ein paar Sätze der Kandidaten, ein unvorteilhaftes Foto oder ein Fehler der Konkurrenz. Kampagnen sind bis ins letzte Detail geplant. Letztlich sind sie aber auch höchst labile, störungsanfällige Konstrukte. Kurze Momente können über Erfolg oder Misserfolg entscheiden“ (146).

Das große Verdienst des Buches ist es, abseits von den erwähnten konkreten Ereignissen und Entwicklungen im Wahlkampf, den Blick auf möglicherweise längerfristige und damit wichtigere Tendenzen deutscher Politik zu richten. Welche Konsequenzen für die politische Stabilität haben die jüngst zu beobachtbaren Veränderungen im Parteiensystem? Werden die Volksparteien überleben? Wie verändert sich das Verhältnis zwischen Politik und Medien im Zeitalter sozialer Netzwerke und verstärkter Digitalisierung auf allen Ebenen? Vor welchen großen Herausforderungen steht die nächste Bundesregierung?

Was als Erlebnisbericht des vergangenen Wahlkampfes beginnt, entwickelt sich daher im Fortgang der Lektüre zu einer Studie über die Bestimmungsfaktoren bundesdeutscher Politik im 21. Jahrhundert und bietet von daher zahlreiche Anknüpfungspunkte auch für die politikwissenschaftliche Forschung: Über welche Handlungsressourcen verfügt der Bundeskanzler? Unterscheidet sich ein konkreter Regierungsstil in Krisenzeiten vom Regieren unter gewöhnlichen Umständen? Wie verständigt man sich mit dem Koalitionspartner? Welche Rolle spielt die Landespolitik für die Bundespolitik, etwa im Rahmen der Aushandlungen im Bundesrat?

Gelegentlich greift Lamby weit zurück und beleuchtet zentrale Prozesse und Entscheidungen vorangegangener Bundestagswahlkämpfe. Dabei werden die charakteristischen Highlights früherer Wahlkämpfe dargestellt, wie der von Helmut Kohl (1998), Guido Westerwelle (2002), Gerhard Schröder (2005), Peer Steinbrück (2013) oder Martin Schulz (2017). Selbst auf den Kreuther Trennungsbeschluss der CSU in den späten 1970er-Jahren (und dessen Echo in den Auseinandersetzungen zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer sowie Armin Laschet und Markus Söder) wird eingegangen. Auch das gewandelte Verhältnis zwischen Politik und Medien im Kontext aktueller politischen Kommunikation, einschließlich aller damit einhergehender Veränderungen für die konkrete Gestaltung des Wahlkampfes, findet seinen Platz in „Entscheidungstage“. Auf Seite 23 zitiert Lamby den CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak mit den Worten, Wahlkampf sei „die Königsklasse der Kommunikation“. Die Hauptstadtpresse beschreibt Lamby in diesem Zusammenhang als „Teil des Dschungels“, sie folge einer „schwer beeinflussbaren Dynamik“ (278).

Am Ende erweist sich Olaf Scholz‘ Rechnung mit dem Amtsbonus als erfolgreich. Sein Kalkül, das von den Ergebnissen der Landtagswahlen des Frühjahrs 2021 befördert wird, lautet wie folgt: „1. Bei Wahlen werden Amtsinhaber bestätigt. 2. Bei der Bundestagswahl tritt die Amtsinhaberin nicht mehr an. 3. Vizekanzler Olaf Scholz kann als einziger Kanzlerkandidat vom übriggebliebenen Amtsbonus der Bundesregierung profitieren“ (118). Deutlich wird auch, dass die Grünen von einer Kanzlerkandidatur organisatorisch und strukturell überfordert waren und auf die zahlreichen Vorwürfe gegen ihre Kanzlerkandidatin nicht adäquat reagieren konnten (vgl. etwa 224 ff.). Kurz vor einer Wahl, so Lamby, seien öffentliche Zweifel an der Professionalität „Gift für die Kampagne“ (266). Hinzu kam die Frage, ob die Partei in der Lage sein würde, erfolgreich lagerübergreifend um Stimmen zu werben, um am Ende wirklich vorne liegen und einen Regierungsbildungsauftrag formulieren zu können: „Oder anders: Können die Grünen eine auf Konsens und Kompromisse ausgerichtete Politik betreiben, wenn das Thema Klimawandel ‚alles schlägt‘?“ (34) Am Ende des Wahlkampfes resümiert Robert Habeck: „Wir haben unser Narrativ verloren. Und damit die Deutungsmacht, die wir gebraucht hätten“ (359).

Mit Blick auf die CDU identifiziert Lamby zwei Machtzentren, eines in der Partei beziehungsweise Parteizentrale, ein anderes im Bundeskanzleramt. Erstmals in der Geschichte der Union liegen vor der Bundestagswahl von 2021 Parteivorsitz und Kanzlerschaft nicht in einer Hand: „Ein Experiment mit offenem Ausgang. Inzwischen wissen wir: das Experiment ist gescheitert“ (66). Der Wahlkampf 2021 hat laut Lamby auch gezeigt, dass die Devise „Risikovermeidung als Kampagnenprinzip“ (287), mit dem Angela Merkel im Kontext der oft beschriebenen asymmetrischen Demobilisierung gleich mehrere Wahlkämpfe erfolgreich gestalten konnte, im Fall von Laschets „Wohlfühl-Wahlkampf“ (339) nicht von Erfolg gekrönt war. Deutlich wird im Buch auch: Als das Scheitern dieses Prinzips manifest wird, existiert kein Plan B, auch mit kurzfristig einberufenen Klima- und Zukunftsteams ist die Wende nicht zu schaffen (vgl. 355 ff.).

Das Fazit des Autors fällt zwiegespalten aus: „Das Votum der Wählerinnen und Wähler bei der Bundestagswahl war ein entschiedenes Sowohl-als-auch. Die Deutschen wollen Stabilität – daher haben sie vor allem SPD und Union, die beiden Parteien der alten Großen Koalition, gewählt. Und sie wollen Veränderung. Daher die Stärkung der beiden Oppositionsparteien Grüne und FDP“ [… .] Das Verlangen nach einer anderen Politik war im September 2021 noch höher als vier Monate zuvor – als der stärkste Wunsch nach einer grundlegend anderen Politik seit dreißig Jahren gemessen wurde. Die neue Regierung muss die wachsende Wechselstimmung im Land für die anstehenden tiefgreifenden Reformen nutzen“ (373). Denn dass diese Reformen nötig sind: davon ist der Autor überzeugt. Ein Satz, den Lamby in seinen zahlreichen Gesprächen öfter gehört hat, ist, man müsse Politik über die aktuelle beziehungsweise die nächste Legislaturperiode hinausdenken (15).

An gleich mehreren Stellen blickt Lamby jenseits eines Regierens auf Sicht über die konkrete, aktuelle Politik hinaus und thematisiert möglicherweise tektonische Verschiebungen in der deutschen Politik: „Die neue Regierung wird sich von Merkels Politik der kleinen Schritte verabschieden müssen. Sie muss anders laufen lernen. Sie muss große Schritte gehen“ (16). Abseits von konkreten Inhalten fällt Lamby am Ende seiner Ausführungen auf, „wie fremd sich das Spitzenpersonal der Berliner Politik und die Bevölkerung geworden sind. Wie falsch in Machtfragen geübte Strategen die Wahrnehmung von Wählerinnen und Wählern einschätzten. Oder wie leichtfertig und überheblich sie diese ignorierten“ (369). Damit blickt „Entscheidungstage“ letzten Endes nicht nur auf äußerst spannende und lesenswerte Weise auf den zurückliegenden Wahlkampf zurück, sondern verweist auch auf die vor den politischen Akteuren liegenden Herausforderungen der kommenden Monate und Jahre.

 

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