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Jörg Radtke / Norbert Kersting (Hrsg.): Energiewende. Politikwissenschaftliche Perspektiven

17.04.2019
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Autorenprofil
Martin Repohl, M.A.
Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2019

Die Energiewende ist inzwischen zum festen thematischen Bestandteil sozialwissenschaftlicher Disziplinen geworden. Von einer frühen Verankerung in den Wirtschaftswissenschaften diffundierte dieses Thema in die Soziologie und die Geisteswissenschaften, was die inhaltliche Vielfalt der Energiewendeforschung verdeutlicht. Umso erstaunlicher ist es, dass eine Zusammenstellung genuin politikwissenschaftlicher Perspektiven bisher fehlte, handelt es sich doch um eine „Jahrhundertaufgabe“ (VII), welche nicht nur konkrete Lebenswirklichkeiten und Arbeitswelten betrifft, sondern als politisches Großprojekt auch das politische System selbst beeinflusst. Dies verdeutlicht insbesondere die jüngste Diskussion um den Kohlekompromiss zum schrittweisen Ausstieg aus der Kohleverstromung bis zum Jahr 2038. Während auf der einen Seite um Arbeitsplätze gefürchtet wird, fordert auf der anderen Seite die junge Generation ihr Recht auf mehr Klimaschutz ein. Die Energiewende ist damit vor allem auch eine demokratische Herausforderung.

Der von Jörg Radtke und Norbert Kersting herausgegebene Band, der zum ersten Mal genuin politikwissenschaftliche Zugänge zu diesem Themenfeld versammelt, ist aus einer Tagung 2016 hervorgegangen – zugleich eröffnet dieser Band die neue Schriftenreihe Energietransformation des Springer Verlages. Diese soll dezidiert politikwissenschaftliche Beiträge zur Energie- und Mobilitätswende bündeln. Die Beiträge sind in vier Abschnitte strukturiert. Zunächst werden die perspektivischen und policytheoretischen Grundlagen der politikwissenschaftlichen Energiewendeforschung erläutert. Dabei werden insbesondere das Mehrebenensystem, die Struktur des Politikfeldes und die Terminologie der Energiewendeforschung erläutert. Im zweiten Teil finden sich verschiedene Fallstudien zur Energiewende-Politik im europäischen Mehrebenensystem. Dazu zählen eine vergleichende Fallstudie zu Dänemark, Frankreich und Deutschland, eine Analyse des Sonderfalls Niederlande sowie zum vermeintlichen Energiewendekonsens im deutschen Föderalismus und eine Fallstudie zu Städten in Baden-Württemberg. Im dritten Teil geht es um legitimatorische Aspekten, um Akzeptanz und Partizipation. Die Autor*innen analysieren die Öffentlichkeitsbeteiligung durch private Akteure, Bürgerbeteiligung in Energiegenossenschaften sowie die Bedeutung kommunaler Unternehmen. Der vierte Teil versammelt schließlich Beiträge zu Diskursen, Konflikten und sozialer Ungleichheit. Analysiert werden demokratische Defizite und Energiekonflikte am Beispiel von Windkraftanlagen, Demokratisierungsprozesse in Augsburg und Berlin sowie soziale Implikationen am Beispiel der Bekämpfung von Energiearmut in Nordrhein-Westfalen.

Hervorzuheben sind insbesondere die folgenden Beiträge, da diese das Potenzial einer dezidiert politikwissenschaftlichen Perspektive verdeutlichen: So vermittelt die Bestandsaufnahme von Jörg Radtke, Weert Canzler, Miranda Schreurs und Stefan Wurster die Tatsache, dass die Energiewende nicht nur einen Wandel der Stromversorgung erzeugt, sondern auch neue Akteure in die Energiepolitik einführt und damit intersektorale Verflechtungen bewirkt (beispielsweise in der Wechselwirkung zwischen Energie- und Verkehrspolitik). Das führt wiederum zur Entstehung von neuartigen Governancestrukturen, reproduziert aber auch altbekannte Verflechtungsmuster. Roland Czada und Jörg Radtke analysieren in ihrem Beitrag, dass ein terminologischer Unterschied zwischen Energiewende und Energietransformation besteht – mit Folgen für die konzeptionelle Erfassung relevanter Phänomene: „Auch wenn die Rede von der Energiewende die Vorstellung einer einmaligen Richtungsänderung nahelegt, handelt es sich doch um ein facettenreiches, äußerst komplexes und langfristig angelegtes Transformationsprojekt. Es besteht gerade nicht in der abrupten Änderung eines […] Jahrtausende alten fossilen Energiepfades“ (46). Diese Präzisierung hat wiederrum Konsequenzen für die demokratietheoretische und policyanalytische Beschäftigung mit der Energiewende, zum Beispiel bei der Modellierung von Policywechseln mit relevanten Forschungsheuristiken wie dem Multiple-Streams-Ansatz. Eva Eichenhauer analysiert die konflikttheoretischen Dimensionen der Energiewende. Sie zeigt in ihrem Beitrag, dass lokale Konflikte um den Ausbau der Energieinfrastruktur nicht nur Ausdruck gesellschaftlicher Befindlichkeiten und Wahrnehmungen sind, sondern auch demokratische Defizite in den Beteiligungsverfahren widerspiegeln. Die populäre Erklärung, dass es sich bei Protestgruppen schlicht um Wutbürger und sogenannte NIMBYS (Not in my backyard) handelt, greift ihrer Analyse nach zu kurz, da sich zeigt, „dass die wahrgenommene Verfahrensgerechtigkeit, v. a. verstanden als adäquate Interessenvertretung und Zugang zu unabhängigen Informationen, erheblichen Einfluss auf die Meinung zu den Bauvorhaben hat. Die Frage der Legitimität […] tritt damit in den Vordergrund.“ (317)

Diese und weitere Beiträge des Sammelbandes verdeutlichen das breite Spektrum der politikwissenschaftlichen Perspektive auf die Energiewende. Eine politikwissenschaftliche Energiewendeforschung ist damit weit mehr als eine reine Analyse der Energiewendepolitik, denn die Energiewende ist auch eine demokratische und gesellschaftliche Herausforderung. Die Politikwissenschaft kann daher einen Beitrag dazu leisten, diese Herausforderungen zu erkennen, indem sie verkürzte Erklärungsmuster hinterfragt und Zusammenhänge herstellt, beispielsweise zur Legitimitätsforschung. Die Stärke des Bandes liegt vor allem in seiner thematischen Heterogenität bei einer gleichzeitig thematisch anschlussfähigen Selbstverortung im Bereich der Policy- und Governanceforschung. Durch die Herausarbeitung von Bezügen zur Partizipations- und Legitimationsforschung eignet sich der Band hervorragend als Einführung in die politikwissenschaftliche Energiewendeforschung.

 

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