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Ein neuer Bürgerkrieg? Europa zwischen Geist und Ungeist

05.12.2017
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Prof. Dr. Ulrike Guérot

„Kämpfende Formen“ hat Franz Marc sein Gemälde genannt, das, genau wie seine Schrift „Das fremde Europa“, im Jahr 1914 entstanden ist. Foto: Wikimedia Commons„Kämpfende Formen“ hat Franz Marc sein Gemälde genannt, das, genau wie seine Schrift „Das fremde Europa“, im Jahr 1914 entstanden ist. Foto: Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marc_-_K%C3%A4mpfende_Formen_PA291382.jpg

 

Die Ambivalenz des europäischen Friedens

Das Verhältnis von Europa zum Frieden war immer ein brüchiges, der Frieden für Europa immer Leitmotiv, da der Krieg immer latent mitgedacht war. Europas Verhältnis zu Krieg und Frieden ist ein dialektisches, denn jahrhundertelang war der Kontinent von Kriegen geprägt. „Wenn man […] auf der Karte für jeden Krieg, der in Europa je stattgefunden hat, mit einem roten Stift eine Linie zwischen den kriegsführenden Parteien zieht, Schlachtfelder und Frontverläufe markiert, dann verschwindet das Netz der Grenzen völlig unter einem roteingefärbten Feld“, schreibt Robert Menasse in seinem Buch „Der europäische Landbote“ (Menasse 2012).

Erst im vergangenen Jahrhundert, genauer seit Ende des Zweiten Weltkriegs, ist in Europa jene semantische Grauzone eines Kalten Kriegs entstanden, ein de facto institutionalisierter Frieden zwischen den europäischen Nationalstaaten.

Abgestützt und finanziert von den USA und toleriert von der UdSSR, konnte Europa sich in die Aussöhnung zwischen bis dato verfeindeten Nationalstaaten und einen Prozess der wirtschaftlichen und politischen Integration begeben und gleichzeitig – noch geschützt vor der Globalisierung – weitgehend sozialen Frieden genießen.

Fast als Ironie der Geschichte mutet es daher an, dass die Beendigung des Kalten Kriegs 1989 und die Kulmination des europäischen Friedensprojektes durch den Abschluss des Maastrichter Vertrages 1992 weitere 25 Jahre später nicht etwa in einen warmen Frieden, sondern in die Grauzone eines kalten Friedens mündet, in der die Institutionalisierung des Friedens in Europa möglicherweise ein neuartiges kriegerisches Treiben hervorbringt und damit kippt.

 

Kulturkampf oder Bürgerkrieg?

Die einen sprechen von Kulturkampf, die anderen von Bürgerkrieg. Auf jeden Fall ist Europa in Aufruhr, sind die europäischen Gesellschaften tief gespalten. Gegenüber stehen sich einerseits die sogenannten Identitären – Marine Le Pen, Geert Wilders, Norbert Hofer, Frauke Petry oder Alice Weigel, die durch ihr Frauenbild, ihre Islamophobie Ulrike Guérot: Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde. Propyläen Verlag, Berlin 2017.Der Beitrag enthält die wesentlichen Thesen des Buches.
Ulrike Guérot:
Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde. Propyläen Verlag, Berlin 2017
Der Beitrag enthält die wesentlichen Thesen des Buches.
oder die Ablehnung von Homosexualität ein reaktionäres Weltbild vertreten und die Abschaffung der bestehenden europäischen Ordnung anstreben – und auf der anderen Seite eine europäisch gesinnte Zivilgesellschaft, alarmierte Jugendliche oder ihrerseits besorgte Bürger als Verteidiger der europäischen Aufklärung im Sinne des Erbes der französischen Revolution. Es ist keine Auseinandersetzung zwischen Nationen, sondern eine politisch-ideologische Frontstellung, die längst paneuropäisch verläuft.

Diese Frontstellung ist eine Art neuer europäischer Bürgerkrieg, nicht verstanden im Sinne von Situationen wie in Syrien oder in der Ukraine. Noch ist alles ruhig in Europa. Und doch erleben wir eine nicht gekannte verbale Aufrüstung. Die Chefin des Front National Marine le Pen, FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache oder die Oberrandalierer der AfD, Björn Höcke und André Poggenburg, nehmen das Wort Bürgerkrieg längst in den Mund.

Das ist ernst zu nehmen, denn mit dem Credo der Berufsoptimisten, das alles schon wieder gut werden wird, ist es nicht mehr getan, auch wenn der rechtspopulistische Auftrieb in Europa zunächst einmal gestoppt scheint, vor allem durch die Wahl von Emmanuel Macron zum französischen Präsidenten im Mai 2017. Das Problem mit dem Populismus ist nämlich, dass die Ideen der Rechtspopulisten auch dann gewinnen, wenn ihre Parteien die Wahlen nicht gewinnen. Ganze politische Systeme rutschen politisch, ökonomisch und kulturell nach rechts.

Dies lässt sich daran beobachten, dass zum Beispiel in Österreich die beiden Volksparteien ÖVP und SPÖ eine Koalition mit der FPÖ nicht mehr ausschließen, dass in Deutschland der konservative Flügel der CDU eine Leitkulturdebatte losgetreten hat oder daran, dass sich die vierte französische Rechte neu sortiert und zwar in einer Art, in der ein Zusammenschluss des konservativ-neo-liberalen Flügels der Républicains um François Fillon und der erzkatholischen Bewegung Sens commun um Christine Boutin mit einem „renovierten“ und umbenannten Front National nicht mehr auszuschließen ist.

Im europäischen Bürgerkrieg stehen sich Globalisierungsverlierer und Globalisierungsgewinner, urbane Zentren und ländliche Regionen, Jung und Alt, Arm und Reich, Identitäre und Kosmopoliten gegenüber. Es herrscht eine fast prärevolutionäre Situation, die mit dem klassischen politischen Schema von rechts und links nichts mehr zu tun hat, wohl aber mit dem Paradigma des Bürgerkriegs, nämlich Beherrschte gegen Herrschende oder eben „Volk“ gegen Elite. Anders formuliert: Die europäischen Nationalstaaten zerfallen als politische Körper. Es ist die wohl größte Krise der politischen Repräsentation im modernen Europa, die sich unter anderem am Zerfall der Parteiensysteme und der klassischen Parteien sowie ihrer gewohnten Koalitionsschemata in den meisten europäischen Mitgliedstaaten zeigt.

 

Latenter Unfrieden

Nach außen erscheint Europa, erscheinen die meisten europäischen Mitgliedsstaaten noch politisch stabil. Doch es herrscht Unfrieden in Europa. Der Kontinent befindet sich im kalten Frieden da, wo der heiße Krieg zwischen EU-Staaten unmöglich erscheint und der Kalte Krieg bis auf Weiteres vorbei ist. Europa scheint einerseits zur leichten Beute zu werden, für wahlweise Putin oder den Terror des IS, und wird zerrieben durch äußere Einflüsse, denen es – von der Türkei über die Ukraine bis zum Syrienkrieg – kaum etwas entgegenzusetzen hat. Andererseits ist es um die Zermürbung Europas nach innen nicht besser bestellt. Das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur Verteilung der Flüchtlinge und die ungarische Weigerung, das Urteil anzuerkennen, sind sprichwörtlich Ausdruck dafür, dass die EU das, was sie vorgegeben hat zu sein, nämlich vor allem eine Rechtsgemeinschaft, kaum mehr ist. Jedenfalls hat sie keine Sanktionsfähigkeit, ihr Recht gegen die Mitgliedstaaten durchzusetzen. Allem voran scheitert Europa also an sich selbst!

Die Parole „Nie wieder Krieg“, die sowohl von den europäischen Gründungsvätern als auch den jetzigen Politikern immer wieder beschworen wird, klingt angesichts des kalten Friedens innerhalb Europas und des europäischen Unfriedens mit der Außenwelt hohl. Die europäische Friedenserzählung ist mithin doppelt brüchig geworden. Erst das kolossale Missmanagement der Eurokrise und dann die Flüchtlingskrise haben die politische Spaltung sowie die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Zerwürfnisse in Europa befördert, an denen die EU jetzt zu scheitern droht. Europa ist tief gespalten in Nord und Süd, Ost und West. Aber nicht nur das. Auch die nationalen Gesellschaften sind gespalten – und diese Spaltung macht die Nationalstaaten vollends unfähig, europäisch zu handeln.

Nicht die Einzelphänomene machen Angst, sondern es ist die Zusammenschau aller Krisenerscheinungen, die einen Vorgeschmack auf den europäischen Bürgerkrieg bietet: Arbeitslosigkeit, Individualismus, Niedergang traditioneller Konfessionen, demografischer Wandel, Fundamentalismus, Terror, Migration und Flüchtlinge, Verarmung, drastischer Bildungsverfall, Kriminalität, Polarisierung zwischen Arm und Reich. Hinzu kommt überall in Europa die Konfrontation zwischen der „Elite“, der vermeintlich oligarchischen Politikerkaste, und unzufriedenen Populisten, die beanspruchen, „das Volk“ zu sein. Der sich ankündigende europäische Bürgerkrieg, in dem zunehmend Bürger gegen Bürger stehen, ist de facto ein transnationaler Verteilungskampf und ein Kulturkampf. Keiner von beiden ist national zu lösen und die EU verfügt über kein Instrumentarium zur Lösung.

Das Wort von der „Weimarisierung Europas“ geistert bereits durch die Gazetten, und ein Blick nach Polen oder Ungarn reicht, um die Analogie zur politischen Situation in den Zwischenkriegsjahren zu erfassen. Doch auch bei französischen Diners wird vom guerre civile gewispert, und das Aufgebot von Panzerfahrzeugen während der Nuit debout auf der Place de la République in Paris im Frühjahr 2016 konnte mulmig machen. In Brüssel patrouilliert Militär, in Deutschland wird über den Einsatz der Bundeswehr im Innern diskutiert. Frankreich befindet sich im Dauer-Ausnahmezustand, an der Gare du Nord ist mehr Polizeiaufgebot zu sehen als am Flughafen von Bogotá. Die aktuelle Beschwörung der Zivilgesellschaft kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass längst eine schleichende Militarisierung der europäischen Gesellschaften stattfindet. Überall werden Rekruten gesucht und die Verteidigungsetats aufgestockt. Auf dem Nährboden von Angst- und Sicherheitsdiskursen gedeiht zudem der Überwachungsstaat. Für nichts hat die EU in den vergangenen Jahren so viel Geld ausgegeben beziehungsweise aufgestockt wie für Surveillance, Anti-Terror-Maßnahmen oder auch Frontex.

„Der molekulare Bürgerkrieg beginnt ganz unmerklich, ganz ohne Mobilmachung“, schrieb Hans-Magnus Enzensberger schon in den 1990er-Jahren, als die derzeitige Krise Europas auch in schlimmsten Alpträumen nicht vorstellbar war (Enzensberger 1993). Nun ist sie da und mit ihr ein neuer Aggregatzustand des Politischen, in dem alles zu zerfließen scheint – Recht, Sicherheit, Ordnung, Deutungshoheiten, Wahrheiten und morgen vielleicht Frieden, Freiheit, Demokratie, kurz: alles, was uns in Europa lieb ist.

Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“ ist wieder ein Bestseller. In Wahlkämpfen indes kommt dies nicht oder kaum vor: Im Angebot ist eine als alternativlos gesetzte Politik, die im besten Fall auf Schadensbegrenzung und Mängelverwaltung zielt, deren Armut an Mut und Utopie indes bedenklich stimmen muss. 2017 ist, jetzt, da der unmittelbare Rechtsruck abgewehrt ist, auch das Jahr der kollektiven Verdrängung, dass sich in Europa fundamental etwas ändern muss.

Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, schrieb im Jahr 1854 Leopold von Ranke (Ranke 1971). Insofern wiederholt sich die europäische Geschichte von 1914 bis 1945 nicht. Nichts von damals lässt sich ernsthaft mit der heutigen Situation in der EU vergleichen, weder die gesellschaftliche noch die wirtschaftliche oder politische Struktur, auch nicht der historische oder globale Kontext. Und doch gibt es Parallelen zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: eine rasante technologische Beschleunigung – was heute Internet und Roboter sind, waren damals Telegraphenmast und Flugzeug – und eine wachsende Zahl von Modernisierungsverlierern – damals die Masse der Landarbeiter und von der Industrie verdrängten Handwerker, heute die unqualifizierten und prekären Arbeitnehmer.

Und nicht zuletzt herrscht eine „Krise der Männlichkeit“: Was damals die erste Demontage des Patriarchats durch das Frauenwahlrecht war, ist heute die Forderung nach 40 Prozent Frauen in den Vorständen (Blom 2009). „Männlich“ ist nach „Bildung“ der zweitwichtigste Faktor bei rechtspopulistischen Voten (Bude 2014). In seinem Buch „Männerphantasien“ beschrieb Klaus Theweleit schon in den 1970er-Jahren anschaulich, dass Nationalismus, Militarismus und Faschismus nicht zuletzt eine Reaktion auf die erste Frauenbewegung waren (Theweleit 1977). Auch heute geht es, vor allem bei jungen Männern, vornehmlich um Sicherheit und nationalen Rückzug, gepaart mit dem Wunsch nach starker Führung. Auch in Europa und Deutschland steigt einigen Studien zufolge die Zahl derer, die nicht mehr der Überzeugung sind, dass die Demokratie die beste Staatsform ist. Wenn Zukunft ist, was die Jugend will, dann ist es nicht gut um die Demokratie in Europa bestellt.

Im Außenverhältnis sieht es nicht besser aus: Das Wort Krieg ist wieder salonfähig geworden und hat Einzug in offizielle Reden gehalten. „It seems as if the world is preparing for war“, konnte man kürzlich Michail Gorbatschow im Times Magazin lesen (Gorbatschow 2016), und Europa macht mit. Die Wehretats werden rasant aufgestockt, mit Postern und Werbebriefen sucht man wieder Rekruten. Immer deutlicher dringt ins öffentliche Bewusstsein, dass die längste europäische Friedensphase zu Lasten Dritter ging.

Die Ursprünge der heutigen Krisen liegen in der Kolonialzeit und in post-kolonialen europäischen beziehungsweise westlichen Interventionen. Europa erreichen heute die Langzeitfolgen einer gescheiterten Modernisierung vor allem der arabischen Welt, deren Ursachen in das 19. und 20. Jahrhundert zurückreichen. Je nach Zählung gab es während der vergangenen 60 Jahre bis zu 286 Kriege und Konflikte in anderen Regionen der Welt.

Die EU, die sich gerne als Friedensmacht versteht und einer wertegebundenen Außenpolitik verpflichtet fühlt, hat von der Agrar- bis hin zur Handels- oder Ressourcenpolitik in anderen Teilen der Erde Unfrieden gesät, nicht zuletzt im Nahen Osten, der dabei ist, unter europäischer Mitverantwortung zu explodieren. Was als democracy promotion vor gut fünfzehn Jahren unter US-amerikanischer Führung im Nahen Osten begann, hat dort keine Demokratien geschaffen, aber das Potenzial, die europäischen zu versenken. Erst langsam drängt der Begriff der Fluchtursachen in den politischen Diskurs. Das Resultat sind eine intensive Zuwanderung und Terror, die heute die europäischen Nationen spalten und Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten gießen. Neben religiösem Wahn ist Terror auch eine Antwort auf die strukturelle Gewalt des Westens.

Doch weitgehend bar jeder Selbstkritik werden angesichts von Terror, Migration und Flüchtlingen Sicherheit und Abschottung zum einzigen Reflex in der EU – angelegt als Diskurs zur Verteidigung europäischer Werte. Indes werden hier keine Werte verteidigt, sondern Sicherheit und Geld. Durch ihre derzeitige Sicherheitsobsession verrät die EU jenes kulturelle Erbe, das zu verteidigen sie vorgibt. Frontex ist kein „Wert“, sondern ein Mittel zur Abschottung.

„Alles ist Sprache“

Folgt man Françoise Doltos berühmtem Ausspruch „Tout est langage“, alles ist Sprache, redet sich Europa derzeit gleichsam in ein kriegstreiberisches Geschehen hinein, nationale Anfeindungen sind dabei nur ein Element. Unter der Oberfläche eines kalten Friedens brauen sich überall in Europa längst wieder Feindseligkeiten und Ressentiments aller Art zusammen – gegen die EU, gegen das System, gegen den Euro oder gegen den Nachbarn (vor allem gegen die Deutschen) –, die schon während der Eurokrise in offenen Chauvinismus wie zum Beispiel in Form von Plakaten von Politikerköpfen mit Hitlerbärtchen gemündet sind.

Die Betonung, ja fast Beschwörung der Zivilgesellschaft im europäischen Diskurs und die Appelle an sie, sich dem zunehmend offen artikulierten Hass zu widersetzen, können dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass unterschwellig längst eine kaum wahrgenommene Militarisierung der europäischen Gesellschaft stattfindet. Der laute, fast flehende Ruf nach dem Zivilen korreliert negativ mit einer real empfundenen, nicht mehr nur semantischen Aufrüstung. Cyberkrieg oder Krieg gegen den Terror sind heute Realität. Auf dem Nährboden der mit ihnen einhergehenden, teilweise inszenierten Angst- und Sicherheitsdiskurse gedeiht ein postmoderner Überwachungsstaat, für dessen sprichwörtliche Mächtigkeit das neue BND-Gebäude in Berlin als Imago stehen mag. Was also ist heute Krieg, was ist Frieden in Europa, jenseits lexikalischer Definitionen? Ist der kalte Frieden in Wahrheit ein verdeckter Krieg oder Kriegsvorbereitung, während der Kalte Krieg de facto gleichbedeutend war mit angenehmen Friedensjahren in Europa, einschließlich des sozialen Friedens?

Die Fassade der europäischen Friedenserzählung bröckelt also, nach innen wie nach außen, oder auch durch den Druck von außen nach innen. Es ist vorbei mit dem europäischen storytelling. „Die EU ‚besser erklären‘“ funktioniert nicht mehr, sie zu verteidigen geht auch nicht mehr. Einfach formuliert könnte man sagen, die EU war längst schon totgeredet, bevor sie nun gleichsam öffentlich unter den Augen einer teils erfreuten, teils verunsicherten Bevölkerung zu Grabe getragen wird. Mitte Oktober 2016 hat sogar der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor der Presse vor dem Ende der EU gewarnt: „Ewiger Friede auf unserem Kontinent, Europa ist ohne Alternativen – das ist einfach nicht mehr zu halten.“ (Braun 2016)

Fast zynisch ließe sich formulieren, dass dort, wo der Friede, verstanden unter anderem auch als sozialer Frieden, zu teuer wird, Europa keinen ökonomischen Treiber mehr hat – eher im Gegenteil.

 

Die große nationale Schließung

Während ein Krieg zwischen europäischen Nationen noch unmöglich erscheint, kündigt sich also möglicherweise ein Bürgerkrieg an. Die Eurokrise hat die europäischen Nationalstaaten gegeneinander aufgewiegelt und ganze Gesellschaften durch massive soziale Verwerfungen unter politischen Stress gesetzt, denn noch immer ist nicht geklärt, wer für diese Krise bezahlt. Die Eurokrise hat Linksradikalismus wie Rechtspopulismus befördert und die klassischen Parteiensysteme in vielen Staaten Europas gesprengt. Die sich überlappenden Euro- und Flüchtlingskrisen bilden die Matrix des latenten europäischen Bürgerkriegs.

Mit Blick auf die Eurokrise möchte man an den US-amerikanischen Ökonomen Martin Feldstein erinnern, der bereits 1998 in einem Aufsatz formuliert hat, dass der Euro Europa in Konflikte führen werde – lange bevor deutsche Ökonomen ihn zum Spaltpilz Europas erklärten (Feldstein 1998). Der Euro als „verwaiste Währung“ ist bestenfalls in behelfsmäßige politische Strukturen eingebettet. So konnte er zum Opfer einer Bankenkrise werden, die nie einer politischen Lösung (Bankenunion mit Haftungsgemeinschaft) zugeführt wurde und deren über Jahre hinweg angewachsenen Konflikte kurz vor dem Ausbruch steht. Ob der Euro dies übersteht, ist zum derzeitigen Zeitpunkt, in dem das Euro-System auf den nächsten Showdown mit Griechenland zusteuert und italienische, deutsche und französische Banken mehr oder weniger akut kriseln, nicht vorhersehbar.

Die verhaltenen Reaktionen aus Deutschland auf Macrons große europäische Rede an der Sorbonne im September 2017 geben Anlass zur Sorge. Schon sprechen die FDP und Wolfgang Schäuble bloß noch davon, mehr gemeinsame Fördertöpfe zu vermeiden, mit denen vermeintlich deutsches Geld in die europäischen Nachbarländer transferiert werden solle. Dass Europa noch vor ein paar Monaten krachend zu scheitern drohte und dass diese Gefahr auch nach wie vor nicht gebannt ist, scheint zumindest in Deutschland niemanden mehr zu interessieren.

Was jetzt möglicherweise bevorsteht, hätte vor Jahren noch abgewendet werden können, wenn 2012, wie beabsichtigt, der vicious circle zwischen Staats- und Bankschulden durch eine Haftungsunion beendet oder wenigstens konsequente Schritte in diese Richtung gegangen worden wären: der Schwur aufs gemeinsame Geld als Wegbereiter der Einigung Europas! Da die Eurokrise als Verteilungskrise nicht politisch gelöst werden konnte, blieb nur der Rückfall in Nationalismus und Chauvinismus, beides Brutstätten des heutigen Populismus. Am Ende der Bankenkrise stand kein united we stand, sondern ein Jeder-gegen-jeden, vor allem aber Deutschland gegen die meisten anderen.

Der europäische Bürgerkrieg entzündet sich also letztlich an der Frage, wer für die Krise verantwortlich ist und wer für sie bezahlt. Anders formuliert: Die Eurokrise ist der – bisher unblutige – europäische Bürgerkrieg, in dem die europäischen Staaten inklusive anderer Akteure – Finanzmärkte, Exportindustrie, Troika – mittels struktureller Macht gegeneinander kämpfen und sich vor allem juristische Gefechte (OMT, Target-Salden, Klagen in Karlsruhe) liefern. Von diesem Bürgerkrieg hat Deutschland bisher nicht viel mitbekommen, die anderen Staaten umso mehr. Der Rechtspopulismus als politische und soziale Krisenfolge holt diesen Bürgerkrieg jetzt aus seiner Latenz und macht ihn unübersehbar.

Als dann ab 2012 die sogenannte Flüchtlingskrise Europa erreichte, war es von der Banken- und Eurokrise schon erschöpft, die Fronten waren verhärtet, das „Volk“ schon gegen die Eliten aufgestellt, die Euro-Staaten untereinander ebenso uneins wie ihre Gesellschaften gespalten. Osteuropa hatte es aufgegeben, je richtig zu Europa zu gehören, und über das Verhältnis zu Russland war die EU zudem zerstritten. Hatte die Eurokrise den Keil zwischen Nord und Süd getrieben, so spaltete die sogenannte Flüchtlingskrise Europa in Ost und West. EU 28 und Eurozone zerfielen in zwei Teile.

Angesichts einer schon weitgehend handlungsunfähigen EU konnte die „Flüchtlingskrise“ zum zweiten Katalysator für den europäischen Bürgerkrieg werden. Zur ökonomischen Frontstellung gesellte sich die ideologische: völkischer Nationalismus versus kosmopolitisches, tolerantes Europa. Der Kontinent zerfiel erst sozial, dann ideologisch: zum Euro-Bürgerkrieg gesellte sich der identitäre Bürgerkrieg. In ihm geht es um Flüchtlinge, aber auch um Gender, um Abtreibung oder Homosexualität, sprich um alles, was die offenen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten zu tolerieren begonnen haben. Der Verlust der ökonomischen Souveränität sucht sich Ersatz in der vermeintlich homogen-völkischen kulturellen Identität des Nationalstaats. Der Stolz der nationalen Fahne ersetzt den Stolz auf die eigene soziale Vita.

Auch wenn der aktuelle Renationalisierungsdiskurs in Europa es nahelegt, die nationale Frontstellung scheint nicht das eigentliche europäische Problem zu sein. Tatsächlich erleben wir die Vorboten eines transnationalen europäischen Bürgerkriegs, eines europäischen Kulturkampfes, gleichsam die Frontstellung zwischen Partisanen einer europäischen Öffnungs- und Partisanen einer Schließungsagenda, in der die nationalen Konturen zunehmend verschwimmen.

Dieser Kulturkampf umreißt die Kluft zwischen europäischem Humanismus und europäischem Naturalismus als einander widersprechende Erben Europas. Nigel Farage und Marine Le Pen, Viktor Orbán und Geert Wilders, Jarosław Kaczyński und Frauke Petry stehen auf der einen Seite, mit dem Wunsch nach national-homogenen Räumen, identitärer Abgrenzung und völkischem Vokabular. Auf der anderen Seite steht eine vor allem jüngere, parteilich nicht gebundene europäische Zivilgesellschaft, die Europa als nach wie vor emanzipatorisches Projekt sieht, den Begriff der europäischen Unionsbürgerschaft (European citizenship) und den der commons ins Feld führt, für gleiche soziale Rechte in Europa plädiert. Die EU wird also von links mit sozialen (Stichwort: europäische Arbeitslosenversicherung), von rechts mit nationalen Forderungen (Stichwort: keine Flüchtlinge) konfrontiert.

Mit Blick auf konkurrierende – nationale oder soziale – Gesellschaftsentwürfe, unter anderem als Reaktion auf einen durch die EU letztlich systemisch forcierten Neoliberalismus, ließe sich formulieren, dass auch der heutige europäische Populismus die Nationen, die er zu einen vorgibt, spaltet. Die eigentliche Konfrontation in Europa heute ist keine nationale, sondern eine politisch-ideologische. Überhaupt kann der derzeitige Europadiskurs als eine Art Rückkehr der Ideologien bezeichnet werden.

Es waren die Globalisierungsverlierer in den desindustrialisierten Regionen Nordenglands, die UKIP und mithin den Brexit befeuert haben, der von einer ökonomischen zu einer nationalen Frage umgedeutet wurde. Mit dem Brexit wollte sich Großbritannien vermeintlich seiner Identität versichern und vom europäischen Kontinent abgrenzen. Das Gegenteil wurde erreicht. Nichts ist heute so gespalten wie die britische Nation mit ihrer Aufteilung in die City of London, Schottland und Nordirland oder in urbane Jugend und ältere Landbevölkerung.

Der heutige Diskurs ist also kein Widerstreit der europäischen Nationalstaaten, sondern die beklagte Renationalisierung Europas ist eine Art diskursive Augenwischerei. Der heutige kalte Frieden in Europa ist ein Widerstreit der europäischen Bürger um konkurrierende Gesellschaftsmodelle und deshalb im Sinne des Malers Franz Marc potenziell ein europäischer Bürgerkrieg, wenn auch noch nicht in den europäischen Leitmedien als solcher thematisiert. Nur aufgrund einer fehlenden europäischen Öffentlichkeit in der Fläche bildet sich der aktuelle Diskurs als Renationalisierungsdiskurs ab.

 

National und sozial vs. europäisch und liberal

„S’il n’y a plus la nation, qui va s’occuper des pauvres?“1, schmetterte Marine Le Pen ihren Anhängern im Wahlkampf entgegen. Die Frage ist berechtigt. Wo sich die EU nie angeschickt hat, sozial zu werden, ist die Nation das letzte Refugium für sozialen Schutz. Eine Sozial- und Fiskalunion ist nur noch ein kühner Traum, nicht einmal mehr politisches Ziel der EU. Wer traut sich heute, von europäischer Arbeitslosenversicherung zu sprechen, da wieder mehr denn je bei Sozialleistungen nach Nationalität unterschieden wird? Wo die EU außer einem müden „Weiter so“ nichts liefern kann, haben die Rechtspopulisten leichtes Spiel: Sie wachsen proportional zum europäischen Versagen, aus einer Währung eine Demokratie zu machen. Wo es noch kein politisches Substitut in Europa gibt, das sich um das Soziale kümmern würde, bleibt die Nation unverzichtbar.

Wie kann ein paneuropäischer Diskurs, ein europäischer Kulturkampf um ein demokratisches und soziales Europa gelingen? So, dass sich der europäische Geist und der Humanismus gegen den „nationalen Unhold Europas, die Dummheit und Dumpfheit, das ewig Stumpfe“ (Franz Marc) durchsetzen kann? Da Binnenmarkt und Euro um jeden Preis verteidigt werden müssen und beide einflussreiche Verteidiger haben, eine Sozial- und Fiskalunion und mithin eine halbwegs ausgewogene soziale Redistribution in Europa unter den bestehenden institutionellen Bedingungen indes nicht realistisch erscheinen, weil einflussreiche Verteidiger des Euro im Gewand der (deutschen) Exportindustrie daran kein vehementes Interesse haben dürften, mag man die Frage aufwerfen, ob ein Teil der augenblicklichen, nationalen Diskursinszenierung nicht gewollt oder zumindest geduldet ist. Die Binnenmarkt- und Eurorettung vollzöge sich dann um den Preis der nationalen Demokratien in der Annahme, dass die nationalen oder nationalistischen Akteure politisch kanalisiert werden können.

 

Die politische Instrumentalisierung der Geldelite

Die aktuelle Verknüpfung von Euro- und Sicherheitsdiskursen in allen europäischen Staaten lässt als dystopischste Variante eines potenziellen europäischen Bürgerkriegs das Kalkül durchschimmern, dass Repression unter den gegebenen technologischen Bedingungen in Europa billiger sein könnte als Redistribution. Wenn zudem bis 2030 durch Robotics und das Internet der Dinge rund 40 Prozent der heutigen Beschäftigungsverhältnisse verloren gehen und vielleicht nicht ersetzt werden können, dann bedeutet das nicht nur die Auflösung der letzten Reste der klassischen europäischen Industriegesellschaften, sondern auch das Ende der gesamten sozialen Sicherungssysteme, wie sie im globalen Maßstab als europäisches Kulturgut und Spezifikum verstanden werden können (Ford 2016).

Griechenland, dessen Sozialsysteme durch die Eurokrise praktisch liquidiert sind, bietet einen Vorgeschmack. Das wäre dann der technologisch-industrielle Kontext des neuen europäischen Bürgerkriegs. Wie wollte man ihn befrieden? Entweder ringt sich Europa zu einem völlig neuen Begriff von Arbeit durch und schafft den Sprung in ein europäisches Bürgergeld oder aber nationale Überwachungsstaaten halten die Bürger in Angst gefangen. Dabei liefert die Bedrohung durch Migration und Terror einen probaten Vorwand – rund zwei Milliarden Euro sind in den vergangenen zehn Jahren in die Sicherheitsforschung gesteckt worden.

 

Europäischer Einheitsgedanke

Beseelt vom Einheitswunsch und Freiheitsgedanken im Nachklang der Französischen Revolution verfasste Johann Gottlieb Fichte 1808 seine „Reden an die deutsche Nation“, die es damals noch gar nicht gab (Fichte 1971). Nation war als Chiffre für Einheit und nicht für völkische Tümelei zu verstehen; Deutschsein stand im deutschen Idealismus für geistiges Weltbürgertum und Universalgeschichte. Fichte nahm sozusagen den vom irischen Politikwissenschaftler Benedict Anderson eingeführten Begriff der imagined communitiy vorweg, der „vorgestellten Gemeinschaft“, die im Kopf anfängt, bevor sie Wirklichkeit wird.

Für Europa gilt heute das Gleiche. Die Rede haben wir schon. Es ist jener komplett gegen den Zeitgeist gebürstete Discours à la nation Européenne von Julien Benda, verfasst 1932 unter Bezugnahme auf Fichte und den deutschen Idealismus. Auch hier ist Nation als Chiffre für Einheit zu lesen und nicht nationalistisch. Die Rede gilt es wiederzuentdecken – als Warnung vor den politischen und zivilisatorischen Folgen eines Bedeutungsverlusts des humanistischen Wertekanons. Sie ist im Grunde eine Abrechnung mit der säkularisierten Moderne, wie sie aktueller nicht sein könnte. Eine Relativierung moralischer Prinzipien kommt für Benda im Sinne des europäischen Geistes nicht infrage. Auch könne Europa nie durch wirtschaftliche Kooperation allein erzielt werden. Das Zurück-zum-Binnenmarkt-Szenario des Jean-Claude Juncker hätte befremdetes Kopfschütteln ausgelöst. Bendas Rede ist im Gegenteil eine Regieanweisung für die politische Integration.

Fichtes Begehren war es, den Impuls von Liberté, Égalité, Fraternité auf das deutsche Einheitsstreben zu übertragen. Seine Reden initiierten einen nationalen Aufbruch, der spätestens mit dem Hambacher Fest 1832 zu einer emanzipatorischen Bewegung wurde, und zwar von unten, getrieben von den Bürgern Deutschlands.

Gesucht wird heute also ein europäisches Hambach, das in einen europäischen Vormärz mündet – als Aufbegehren gegen Kleinstaaterei und Reaktion! Wie damals geht es heute um bürgerliche Opposition gegen die Restauration, um Einheit, Freiheit und Volkssouveränität. Die Stärke des Vormärz, die vom Hambacher Fest ausging, bestand in der Sammlung einer großen – damals nationalen – Bewegung, die sowohl vom Gleichheits- als auch vom Freiheitsversprechen beflügelt war. Auch damals ging das nicht von heute auf morgen, der Prozess zog sich über Jahrzehnte hin, die Freiheit und Einheit der Bürger wollte erkämpft werden, beginnend mit der Zollunion. Heute müsste es eine europäische Bewegung sein.

Genau das ist heute der Schlüssel für ein geeintes Europa: ein allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht für alle europäischen Bürger, diesmal nicht nur jenseits von Ständen, sondern auch jenseits von Nationen. „Eine Person, eine Stimme“ ist der nächste wichtige Schritt, wenn es gilt, auf unserem Kontinent eine politische Einheit zu begründen, die die wirtschaftliche Einheit erst legitimiert. Erst dann kann das Europäische Parlament zum Sachwalter einer europäischen Demokratie werden, die ihren Namen verdient und deren Souverän die europäischen Bürger sind.

Anders formuliert: Wir müssen also das Erbe der französischen Revolution europäisieren und die damals genommene Abbiegung in Richtung Nationalstaaten überwinden: Die Republik muss europäisch werden! Aus der Bundesrepublik, der République Française, der Republik Österreich, der Repubblica Italiana oder der Rzeczpospolita Polska etc. wird eine Europäische Republik durch allgemeine und gleiche Wahlen, begründet auf dem Gleichheitsgrundsatz aller europäischen Bürger!

Aus der Wahlrechtsgleichheit ergibt sich der nächste Schritt der großen europäischen Reformation, nämlich jener, die europäische Staatsbürgerschaft materiell auszubuchstabieren. Nation, so schon der (konservative) deutsche Historiker Theodor Schieder in einer Rede von 1971, heißt jenseits von ethnischer Homogenität allem voran Staatsbürgergemeinschaft (Schieder 1971).

Wir haben 1992 den Euro auf die Zeitschiene gesetzt und in drei Schritten zwischen 1994 und 2002 die Währungsunion geschaffen. Innerhalb von zehn Jahren wurden von Lappland bis zur Südspitze der Algarve alle Geldautomaten mit Euros ausgestattet. Jeder europäische Bürger hat eine IBAN-Nummer bekommen. Sollte es nicht möglich sein, in einem auf 10, 15, 25 Jahre angelegten Prozess dafür zu sorgen, dass wir von Tampere bis Thessaloniki Wahlrechtsgleichheit haben? Und anschließend eine europäische Steuernummer, eine europäische Sozialversicherungsnummer und dann eine europäische ID bekommen? Und zuletzt gar eine europäische Arbeitslosenversicherung und ein europäisches Bürgergeld beziehungsweise bedingungsloses Grundeinkommen? Warum eigentlich nicht? Das wäre die Agenda des europäischen Vormärz und der großen Reformation Europas, denn die Bürger, die sich darauf einigen, gleich zu sein vor dem Recht, begründen eine Republik: es wäre die historische Bewegung hin zu einer europäischen Republik!

 

Europäische Bürger vs. Volk

Nichts ist dümmer als das oft bemühte Argument, die „Völker“ seien „für Europa noch nicht reif“ oder „zu unterschiedlich“ oder sie „wollten das einfach nicht“. Oft wird ins Feld geführt, es gebe keine europäische Öffentlichkeit. Aber haben wir uns je bemüht, eine solche zu schaffen? Zum Beispiel dadurch, dass wir im Vorfeld der nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 ein politisches Projekt wie oben beschrieben formulieren, zu dem sich alle gesellschaftlichen Gruppen von den Kirchen über Gewerkschaften bis hin zu Fußballverbänden, von Studenten über Arbeitnehmer bis zu Senioren positionieren könnten. Es ist wie Giorgio Agamben gesagt hat: Der Politisierung kann sich im Bürgerkrieg niemand entziehen (Agamben 2016). Jeder wäre gezwungen, Position zu beziehen und in seinem Umfeld dafür oder dagegen zu werben. Mit den gegebenen technologischen Mitteln würde sich die transnationale europäische Öffentlichkeit wie von selbst einstellen, die es im Übrigen schon längst gibt, im Fußball, in der Kultur, in der Wissenschaft, im Tourismus, nur eben im politischen Raum noch nicht.

Es müssten in allen Sprachen alle gesellschaftlichen Gruppen angesprochen werden. Europa wäre kein Elitenprojekt mehr. Man könnte europäische Talkshows organisieren, in denen neben Deutschen auch Polen, Franzosen, Finnen oder Portugiesen sitzen. Es würde dann nicht mehr allgemein über „mehr oder weniger Europa“ schwadroniert, sondern ganz konkret über Wahlrechtsgleichheit, europäische Arbeitslosenversicherung oder European citizenship gestritten. Das bisschen Übersetzung kriegen wir auch noch hin. Indien schafft es, eine Demokratie mit 29 Landesprachen, 17 Schriftsprachen und einer hohen Analphabeten-Quote zu organisieren, da können wir uns nicht ernsthaft auf ein Sprachenproblem berufen.

Und dann lassen wir uns einmal überraschen. Was kann denn passieren? Im schlimmsten Fall zeigt sich niemand interessiert. Das wäre insofern peinlich, als wir uns gerade echauffieren, Europa „retten“ zu wollen, aber nicht bereit sind, Nägel mit Köpfen zu machen. Im zweitschlimmsten Fall kommt keine Mehrheit für ein Europa auf der Grundlage der politischen Gleichheit aller Bürger zustande. Das wäre schade, aber dann sollten wir wenigstens jedes Gerede über ein demokratisches und soziales Europa umgehend einstellen. Wir wären der Sonntagsreden und Lippenbekenntnisse, der Träumerei oder Naivität überführt. Wir würden wieder in nationalstaatliche Konkurrenz zurückfallen, Europa als Projekt der Moderne beenden, den Rechtspopulisten sowie US-amerikanischen und europäischen Parvenüs das Feld überlassen. Dann wären die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge im März 2017 ein letzter Abgesang auf das europäische Friedensprojekt gewesen. Wir würden uns in ein Europa der „verschiedenen Geschwindigkeiten“ einsortieren und ein paar Initiativen vielleicht im sicherheitspolitischen Bereich oder in der Elektromobilität verfolgen, aber im Grunde wäre jeder davon überzeugt, dass die EU, so wie die Dinge liegen, derzeit nur in eine Richtung führt: in die Abwicklung Europas beziehungsweise die Europadämmerung.

Die heutige Europäische Union ist nicht stabil. Ohne einen entscheidenden Schritt nach vorn wird sie in ihrer heutigen Form nicht zu erhalten sein. Also stellen wir uns doch eine Sekunde vor, wir wären die Generation, die Zeitgenossenschaft, die es schafft, diesen entscheidenden Schritt zu gehen, diejenige, die den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger und Bürgerinnen in Europa auf die politische Schiene bringt. Könnten wir nicht stolz sein? Die normative, also rechtliche Gleichheit in Europa muss wichtiger sein als die Nationalität, und jede Partei, die sich Europa auf die Fahne schreibt, muss eigentlich dazu stehen, sonst verrät sie das politische Erbe der Aufklärung und den europäischen Geist.

Europa braucht ein klares Ziel, eine klare Richtung und Perspektive, eine emanzipatorische Agenda, eine konkrete Idee von sich selbst. Der eine europäische Markt und die eine europäische Währung müssen um eine europäische Demokratie ergänzt werden, denn eine Währung ist schon ein Gesellschaftsvertrag. Dies wäre die entscheidende Wegmarke, um das politische System der EU von einer „Staatenunion“, die im Wesentlichen über einen nur indirekt legitimierten EU-Rat „regiert“ wird, in eine wirkliche europäische Demokratie zu überführen, in der am Ende nur eines gelten kann: Die Bürgerinnen und Bürger sind der Souverän des politischen Systems, vor dem Recht sind sie alle gleich, das Parlament entscheidet und es gilt Gewaltenteilung. Der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz ist der Sockel jeder Demokratie. Es wäre die große Reformation Europas!


1 Wenn es die Nation nicht mehr gibt, wer kümmert sich dann um die Armen?


Literatur

Giorgio Agamben
Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, S. Fischer, Frankfurt/M. 2016.

Philipp Blom
Der taumelnde Kontinent, Carl Hanser Verlag, München 2009.

Stefan Braun
Steinmeier bangt um Europa, in: Süddeutsche Zeitung, 23. Oktober 2016.

Heinz Bude
Gesellschaft der Angst, Hamburger Edition, HIS, Hamburg 2014.

Hans Magnus Enzensberger
Aussichten auf den Bürgerkrieg, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993.

Martin S. Feldstein
The Political Economy of the European Economic and Monetary Union: Political Sources of an Economic Liability, NBER Working Papers No. 6150, National Bureau of Economic Research, Inc. 1998.

Johann Gottlieb Fichte
Fichtes Werke, 11 Bände. Hrsg. von Immanuel Hermann Fichte, Nachdruck der Ausgaben Berlin 1845/46 und Bonn 1834/35, Walter de Gruyter, Berlin 1971.

Martin Ford
Aufstieg der Roboter: Wie unsere Arbeitswelt gerade auf den Kopf gestellt wird, Plassen Verlag, Kulmbach 2016.

Mark Franchetti
The Interview: Mikhail Gorbachev, in: The Sunday Times Magazine, 22. Mai 2016.

Franz Marc
Das fremde Europa
Manuskript 1914
http://www.zeno.org/Kunst/M/Marc,+Franz/Schriften/Aus+der+Kriegszeit/32.+Das+geheime+Europa

Robert Menasse
Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Zsolnay Verlag, Wien 2012.

Leopold von Ranke
Über die Epochen der neueren Geschichte: Historisch-kritische Ausgabe, De Gruyter, Oldenburg 1971.

Theodor Schieder
Beiträge zur Geschichte der Weimarer Republik. R. Oldenbourg, München 1971

Klaus Theweleit
Männerphantasien, 1. Band: Frauen, Fluten. Körper, Geschichte, Roter Stern, Frankfurt/M. 1977.

 

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Essay

Es lebe die Europäische Republik! Ulrike Guérot schlägt eine Neuerfindung der EU vor

Die Europäische Union befindet sich nicht nur in einer Dauerkrise, sondern schlimmer: Sie wird "zermalmt" durch Populismus und Nationalismus, schreibt Ulrike Guérot. Daher braucht Europa einen Neustart. In ihrer politischen Utopie entwirft die Europawissenschaftlerin das Projekt einer Europäischen Republik.
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Essay

Die europäische Demokratie erneuern. Grischa Beißner über die wegweisende Rede Emmanuel Macrons

„Wir haben vergessen, Europa zu verteidigen!“, so lautet eine Kernaussage der zweistündigen Rede des französischen Präsidenten, die er im September 2017 an der Pariser Universität Sorbonne gehalten hat. In seiner Auswertung zeigt Grischa Beißner, dass sich Macron explizit gegen nationalistische Bestrebungen, gegen Rechtspopulisten und -extremisten wendet. Er schlägt vor, dass sich die EU grundlegend reformiert, sie sollte sogar neu gegründet werden. Ziel müsse eine demokratische Vertretung aller Europäer sein, die Freiheit, Wohlstand und Rechtssicherheit garantiere.
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Aus den Medien

Ingo Arend

Ulrike Guérot: „Der neue Bürgerkrieg“. Schafft den Nationalstaat ab!
Deutschlandfunk Kultur, 29. Mai 2017

Eine „Streitschrift im besten Sinne: Eine gut begründete, leidenschaftlich vertretene Vision – und damit das Buch der Stunde“ sei die Publikation Ulrike Guérots, so Ingo Arend. Der titelgebende europäische Bürgerkrieg sei eine „Mischung aus ‚transnationalem Verteilungskampf und Kulturkampf‘“. Nur eine Neugründung Europas, eine Europäische Republik, könne Rechtspopulisten und Nationalisten das Wasser abgraben. Ihr Ziel sei es, den „‚intergouvernementalen Föderalismus‘“ der EU durch einen „‚integralen Föderalismus zwischen Personen“ zu ersetzen. Arend moniert, dass Guérot gern zu pathetischen Formeln greife und ihre Vorschläge zu einfach seien, um glaubhaft zu sein: „Ob ihr ‚Europäischer Wohlfahrtspatriotismus‘ – die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft, einer europäischen Arbeitslosenversicherung, eines europäischen Bürgergeldes und von Eurobonds – den grassierenden Populismus und Nationalismus wirklich schlagartig beenden würden, kann niemand beweisen.“ Dennoch sei das Buch bemerkenswert: „Wie ein Stromschlag fährt es in die ausgebrannten Batterien des Europa-Diskurses der politischen Klasse.“

 

Hannes Koch
Eine neue Republik. Vom gleichen Wahlrecht zum gleichen Recht auf soziale Sicherheit: Die Politologin Ulrike Guérot beschreibt einen Weg zur Republik Europa
Die Tageszeitung, 16. Mai 2017

Es finde heute ein Kampf um Europa statt, so sei der von Ulrike Guérot gewählte Titel-Begriff Bürgerkrieg zu verstehen, schreibt Rezensent Hannes Koch. Es sei eine „‚Auseinandersetzung über die Verfasstheit von Staat und Gesellschaft‘“ zwischen Demokraten und Rechtspopulisten. Die Umsetzung des Grundsatzes one man, one vote würde eine Änderung der Sitzverteilung im Europäischen Parlament zur Folge haben und zu der von der Autorin favorisierten Staatsform führen: der europäischen Republik. Denn ein gleiches Wahlrecht müsse mit Rechtsgleichheit, somit mit sozialer Gleichheit einhergehen. Das zentrale Instrument hierfür sei die Einführung der Arbeitslosenversicherung. Für Guérot sei das Wahlrecht also ein „Katalysator in einem sozialen Experiment, das gigantische Energie freisetzt. Das Wahlrecht dient ihr als Rammbock, der das Tor in die Zukunft aufstößt.“

 

Thomas Schmid
Ham Se’s nich ’n bisschen kleener? Ulrike Guérot und ihr europäischer Bürgerkrieg
welt.de, 11. Juni 2017

„Mit einem Begriff wie Bürgerkrieg sollte man eigentlich nicht mutwillig umgehen, und man sollte einen Bürgerkrieg schon gar nicht herbeireden“, schreibt Thomas Schmid, der Ulrike Guérots „schrillen“ Ton kritisiert. Eine Beschreibung des Bürgerkriegs, der in Europa angeblich längst im Gange sei, bleibe die Autorin schuldig.

 

Adam Soboczynski
"Der neue Bürgerkrieg": Politik mit der Abrissbirne
Zeit Online, 3. Mai 2017

Als einen Aufruf zur Revolution bezeichnet Rezensent Adam Soboczynski die Thesen Ulrike Guérots. Die Autorin begreife die Krise der EU als „notwendige Übergangsphase (‚Bürgerkrieg‘) zu einer europäischen Republik“. Das Buch lese er „über weite Strecken durchaus mit Zustimmung“, es entfalte seine Stärken in der Demokratietheorie und Gegenwartsanalyse. Besonders lobt Soboczynski die Entfaltung der „Paradoxien parteipolitischer Lagerbildungen“ und Guérots Ablehnung direktdemokratischer Verfahren, auf die sowohl Links- als auch Rechtspopulisten setzten. Außerdem hebe sie sich von den üblichen Debatten um die Finalität Europas ab. Weder ein europäischer Bundesstaat noch ein Staatenbund, bei dem die Nationalstaaten ihre Souveränität behalten würden, gingen ihr weit genug. Stattdessen empfehle die Autorin eine europäische Republik, eine „‚Föderation vieler regionaler Einheiten ohne nationale Zwischeninstanz‘".

 

Alexander Somek
Gesundbeten und Krankreden, oder: Wie man die EU besser nicht unterstützen sollte
Verfassungsblog, 28. November 2017

Alexander Somek, Professor für Rechtsphilosophie und Methodenlehre der Rechtswissenschaften an der Universität Wien, sieht Parallelen der Positionen Ulrike Guérots zu denen von Robert Menasses, die dieser in seinem Buch „Der Europäische Landbote“ äußere. Beide strebten ein „gutes, aufgeklärtes, soziales Europa“ an, das „nur postnational“ gedacht werden könne. Diesen „Pro-Europäismus“ beider Autoren hält Somek für fragwürdig, denn dieser sei „abstrakt“, „halbgebildet“ und „sogar ein wenig gefährlich“. Ihr „Gesundbeten“ führe zu einem „Krankreden“. So könne von einem Bürgerkrieg keine Rede sein. Es gehe nicht um die Existenz der Union, sondern darum, welche Rolle sie künftig spielen sollte, so Somek. Diese Frage stelle sich allerdings mit großer Dringlichkeit.


Aus der Annotierten Bibliografie

Robert Menasse

Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss

Wien: Paul Zsolnay Verlag 2012; 111 S.; 12,50 €; ISBN 978-3-552-05616-9
Der Schriftsteller und Essayist Robert Menasse, der unter anderem auch Politikwissenschaft studierte, hat sich zumindest vom Titel her ein großes Vorbild gewählt – den „Hessischen Landboten“, das Pamphlet, in dem Georg Büchner 1834 soziale Missstände anprangerte und zur Revolution aufrief. Auch Menasse hat Revolutionäres im Sinn, er fordert nichts weniger als das Absterben demokratischer Strukturen nationalstaatlicher Provenienz in Europa. Nur so könne sich die Europäische Unio...weiterlesen


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Die Krise der Europäischen Union

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