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Felix Münch

Diskriminierung durch Geschichte? Der Deutungsstreit um den "Bronzenen Soldaten" im postsowjetischen Estland

Marburg: Tectum Verlag 2008; 145 S.; pb., 24,90 €; ISBN 978-3-8288-9809-7
Im Mittelpunkt dieser inhaltlich dichten Studie steht der symbolische Mord an „Aljoscha“ – die estnische Regierung ließ 2007 den „Bronzenen Soldaten“, mit dem im Stadtzentrum Tallinns der im Zweiten Weltkrieg gefallenen sowjetischen Soldaten gedacht worden war, verlegen. Darauf habe die russische Minderheit „mit Empörung, Gefühlsaufwallung und Missachtung der geltenden Bestimmungen reagiert“ (105) – es kam nicht nur zu Demonstrationen, sondern sogar zu einem Cyberangriff auf Estland. Auch bei der russischen Regierung sei die Verlegung auf Kritik gestoßen, zumal diese die Besetzung Estlands im Zweiten Weltkrieg nach wie vor als Befreiung bezeichne – und nicht als Besatzung, wie dies von Estland gesehen werde. Das Denkmal als „öffentliches Zeichen der überwundenen Machtverhältnisse“ sei deshalb von den Esten „als für die Zukunft unerträglich empfunden“ (103) worden. In dieser Sicht sei Estland international unterstützt worden und die Denkmalverlegung unisono zur internen Angelegenheit erklärt worden. Soweit dürfte das Geschehen allgemein bekannt seien. Münch lässt es dabei aber nicht bewenden und bei seiner genaueren Betrachtung verwischt sich das scheinbar klare Freund-Feind-Schema. Denn ungeachtet dessen, dass Russland nach wie vor eine einseitige Geschichtspolitik betreibt, erscheint auch Estland nicht als ein Land, das sich seiner Vergangenheit stellt. Die Zeit des Landes als Teil der Sowjetunion wird nach Erkenntnis des Autors fast einhellig verdammt und Fragen einer möglichen Mitverantwortung werden nicht gestellt. Gleichzeitig werden die Esten, die den Nationalsozialisten in der Waffen-SS dienten, als Verteidiger des Vaterlandes glorifiziert. Sie erhalten sogar „als anerkannte Opfer des Kommunismus eine staatliche Rente“ (111), der Holocaust aber werde nicht thematisiert. Münch stellt also ein doppeltes Versäumnis in der Aufarbeitung der estnischen Vergangenheit fest – für die Herausbildung eines pluralistischen Gesellschaftsbildes in diesem Land, das unter Ausgrenzung der russischen Minderheit eine Monoethnizität propagiert, scheinen kaum Anhaltspunkte zu existieren.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.61 | 2.23 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Felix Münch: Diskriminierung durch Geschichte? Marburg: 2008, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/30889-diskriminierung-durch-geschichte_36708, veröffentlicht am 13.10.2009. Buch-Nr.: 36708 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken