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Birgit Reese

Die Verfassung des Grundgesetzes. Rahmen und Werteordnung im Lichte der Gefährdungen durch Macht und Moral

Berlin: Duncker & Humblot 2013 (Schriften zum Öffentlichen Recht 1239); 285 S.; 63,90 €; ISBN 978-3-428-13923-1
Rechtswiss. Diss. Rostock: Begutachtung: H.‑J. Schütz, W. März. – Die für Politikwissenschaftler vielleicht nur theoretisch erscheinende Frage, ob das Grundgesetz als eine restriktive Rahmenordnung oder eine extensive Werteordnung zu verstehen sei, ist angesichts der hochgradig politischen Implikationen jeder Verfassungsauslegung, aber insbesondere in dem Bereich, den man heute gemeinhin als Abwägung von Freiheit und Sicherheit bezeichnet, evident. Birgit Reese schildert zunächst die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit dem Lüth‑Urteil und verweist hier auf die starke Grundrechtsorientierung, die gegenüber der parlamentarischen Gesetzgebungskompetenz kompetenzrechtliche Spannungen impliziert, weil sie das Eindringen überpositiver (moralischer) Rechtsgrundsätze in die Abwägung und damit die Möglichkeit der freien richterlichen Rechtsschöpfung nicht ausschließt. Dem folgt die Darstellung von Robert Alexys ebenfalls stark normativ argumentierender Prinzipientheorie. Reese kommt zu dem Ergebnis, dass Alexy die genannten Schwierigkeiten nicht überwindet, weil auch er letztlich Recht und Moral nicht konsequent trennt und damit den juristischen Diskurs „unter den Vorbehalt des moralischen Diskurses“ (138) stellt, was unmittelbar Abgrenzungsprobleme hervorbringt beziehungsweise den faktisch Stärkeren gleichermaßen zum moralisch als auch juristisch Besseren macht. Hiernach wendet sie sich Ernst‑Wolfgang Böckenfördes Kritik an der Werteordnungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Deutung der Verfassung als Rahmenordnung zu. Aber auch dessen verfassungsrechtlicher Ansatz bleibt nicht unkritisiert, erweise sich doch seine starke Orientierung am parlamentarischen Gesetzgebungsstaat indirekt als etatistisches Denken, das die Verfassung dem Staat nachordne und in die eigene Argumentation bestimmte Sittlichkeits‑ und Homogenitätsanforderungen einbringe. Da weder Alexy noch Böckenförde eine Verfassungstheorie, die Demokratie und Rechtsstaat vereint, liefern können, deutet Reese am Ende ein verfassungsimmanentes Wertordnungsdenken als Alternative an, das die verfassungsrechtlichen Regeln selbst als Prinzipien versteht. Obwohl dieses letzte Kapitel etwas stärker hätte ausgearbeitet werden können, muss selbst ein Leser, der nicht alle Schlüsse teilen würde, anerkennen, dass hier eine außerordentlich gelungene Darstellung und Kritik der verfassungs‑ und rechtstheoretischen Arbeiten Alexys und Böckenförde vorliegt.
Frank Schale (FS)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, Technische Universität Chemnitz.
Rubrizierung: 2.32 | 2.323 | 5.41 Empfohlene Zitierweise: Frank Schale, Rezension zu: Birgit Reese: Die Verfassung des Grundgesetzes. Berlin: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36205-die-verfassung-des-grundgesetzes_44325, veröffentlicht am 19.09.2013. Buch-Nr.: 44325 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken