Die Türkei in der Identitätsfalle. Zur Kompatibilität von Kopenhagener Kriterien und türkischem Konstitutionalismus
Diss. Wuppertal; Begutachtung: H. J. Lietzmann, W. Bergem. – Das Osmanische Reich und die republikanische Rechtsnachfolgerin Türkei stehen in einer spezifischen zweihundertjährigen Tradition: Ihr Staatswesen erlebte teils tiefgreifende Reformen, auf die das westlich‑europäische Recht immer wieder Einfluss hatte. Im Sinne einer Genealogie türkischer Verfassungen fragt Meral Budak‑Fero deshalb nach dem europäischen Einfluss auf den osmanisch‑türkischen Konstitutionalismus. Die Antwort darauf soll obendrein den analytischen Vergleichsrahmen zur Beurteilung der gegenwärtigen Verfassungsentwicklung im Kontext der EU‑Beitrittskandidatur stellen. Darüber hinaus verweist die Autorin auf die Diskrepanz, dass trotz der europäischen Vorbildfunktion die Lage der Menschenrechte nach wie vor defizitär ist. Dieser Schwäche kommt ihrer Meinung nach „hier eine besondere Rolle“ zu – wie lässt sie sich im „Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Verfassung“ (27) erklären? Die Türkei weist gravierende Brüche in der Vergangenheit auf, so ist der Analyse zu entnehmen, die durch das konfliktreiche innenpolitische Gefüge auch heute noch politisch relevant sind. Die rechtshistorischen Entwicklungen zeigen sich als „Zerrissenheit zwischen zwei kulturellen und rechtlichen Strömungen: einer asiatisch‑orientalischen und einer europäisch‑abendländischen“ (169). Trotz Zäsur, so die Autorin, haben der osmanische sowie türkische Konstitutionalismus eine Gemeinsamkeit: Sie schätzen die essenziellen Grundrechte gering. Es fehlte dem Bürgertum die Kraft, eine freiheitliche Entwicklung voranzutreiben, so war die Verfassung durch die Herrschenden, ob durch Sultan oder Militär, oktroyiert. Eine politische Kultur mit tradierten Hierarchiedenken und der Auffassung, dass der Bürger in erster Linie dem Staat dienen soll und nicht umgekehrt, macht Budak‑Fero noch für die Gegenwart als zentrale Entwicklungshemmnisse für eine nachhaltige demokratischen Öffnung aus. Nach ihrer Meinung „verpasst die Türkei die Chance gesamtgesellschaftlicher Verständigungs‑ und Integrationsmöglichkeiten“ (184), die für eine angemessene neue Zivilverfassung eine Grundvoraussetzung wären.