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Wendy Brown: Die schleichende Revolution – Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört

05.10.2018
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Autorenprofil
Martin Repohl, M.A.
Berlin, Suhrkamp Verlag 2018

Spätestens seit Ende des Kalten Krieges hat der Neoliberalismus einen bisher unübertroffenen Siegeszug in den westlichen Gesellschaften gehalten. Vom Rückbau sozialer Sicherungssysteme über die Ausweitung prekärer Beschäftigung bis hin zur Deregulierung der Finanzmärkte – in nahezu allen politischen Systemen der westlichen Hemisphäre hat sich eine Form von Regierungsrationalität durchgesetzt, die weit mehr als nur das Verhältnis von Staat und Wirtschaft neu ordnet. Doch was bezeichnet der – inzwischen im allgemeinen Wortschatz angekommene – Begriff des Neoliberalismus genau? Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin und Professorin an der University of California in Berkeley Wendy Brown gibt in ihrem – bereits 2015 erschienenen – Buch Die schleichende Revolution eine erschreckende Antwort, denn der Neoliberalismus ist als Denkweise vor allem eine existenzielle Bedrohung für die Demokratie selbst. Ihre scharfsinnige Analyse erscheint nun als Taschenbuch bei Suhrkamp.

Brown geht von der These aus, dass die ökonomische Vernunft, die mit dem Neoliberalismus in alle Lebensbereiche eines Gemeinwesens einzieht, die Demokratie nicht bloß korrumpiert oder unterwandert, sondern diese vielmehr als Grundhaltung des politischen Handelns zu einer Erosion an demokratischen Vorstellungsgebilden, Begriffsinventaren und an politischer Kultur führt. Dies gilt sowohl für Staat und Regierung als auch für den einzelnen Bürger: „Vielmehr wandelt die neoliberale Vernunft, die heute in der Staatskunst und am Arbeitsplatz, in der Jurisprudenz, Bildung, Kultur und einem riesigen Bereich von Alltagstätigkeiten allgegenwärtig ist, den eindeutig politischen Charakter, die Bedeutung und Tätigkeit der wesentlichen Bestandteile der Demokratie in etwas Ökonomisches um. Liberaldemokratische Institutionen, Praktiken und Gewohnheiten werden diese Umwandlung vielleicht nicht überleben“ (15).

Der Neoliberalismus ist damit weit mehr als die bloße Deregulierung von Märkten. So begreift Brown diesen Begriff im Anschluss an Foucault als „eine Ordnung normativer Vernunft, die, wenn sie an Einfluss gewinnt, die Form einer Regierungsrationalität annimmt und eine bestimmte Formulierung ökonomischer Werte, Praktiken und Metriken auf jede Dimension des menschlichen Lebens ausdehnt“ (32). Konkret ist der Neoliberalismus damit eine Praktik der kompetitiven Kapitalakkumulation, die jedoch nicht auf Kosten nichtökonomischer Werte, wie Gemeinwohlorientierung, Gerechtigkeit oder Solidarität, durchgesetzt wird, sondern diese Werte entsprechend ihrer Logik reformuliert. Gemeinwohlorientierung wird damit nicht einfach abgeschafft, sondern im Hinblick darauf formuliert und beurteilt, inwieweit sie dem Prinzip der Kapitalakkumulation förderlich sein kann. Brown verdeutlicht die Entfaltung dieser Logik exemplarisch und sehr überzeugend anhand der Rede des US-Präsidenten Barack Obama zur Lage der Nation im Januar 2013: Er erläutert dort explizit, dass sich die Führung eines Staats nicht von der eines Unternehmens unterscheidet und der Staat dementsprechend seine sozial- und gesellschaftspolitischen Maßnahmen danach beurteilt, ob sie dem ungehinderten Wirtschaftswachstum zuträglich sind.

Brown beschreibt in ihrer Analyse, wie die Durchsetzung dieser Rationalität die platonische Homologie zwischen Staat und Seele beziehungsweise Individuum zurückgebracht hat: „Sowohl Personen als auch Staaten werden nach dem Modell des heutigen Unternehmens aufgefasst, sowohl von Personen als auch Staaten erwartet man, dass sie sich in der Gegenwart im Sinne der Maximierung ihres Kapitalwertes verhalten und ihren zukünftigen Wert steigern, und sowohl Personen als auch Staaten tun das anhand von Praktiken des Unternehmertums, der Selbstinvestition und/oder der Anziehung von Investoren“ (21). Mit der Durchsetzung dieser Selbstbeschreibung in Staatswesen und Bürgertum gerät nun die normative Grundlage der Demokratie selbst in Gefahr, denn, wie Brown sehr scharfsinnig und äußerst differenziert aufzeigt, sind Demokratie und Neoliberalismus absolut inkommensurabel, da ein Staat, der zum Beispiel seine Sozialpolitik dem Wirtschaftswachstum unterordnet, seine gemeinwohlorientierten Bestandsgrundlagen ebenso erodiert wie ein Bürger seine umfangreichen Partizipationsrechte abwertet, wenn Wahlentscheidungen ausschließlich nach Eigennutzkriterien getroffen werden. Die Demokratie wird infolgedessen also nicht von außen gefährdet, sondern von innen heraus ausgedünnt, mit fatalen Folgen für das öffentliche Leben: „Dieses Fortbestehen der Politik inmitten der Zerstörung des öffentlichen Lebens in Kombination mit der Vermarktlichung der politischen Sphäre ist ein Teil dessen, was die heutige Politik besonders unattraktiv und schädlich macht – sie ist voller Phrasendrescherei und Posen, es fehlt ihr an intellektueller Ernsthaftigkeit, sie appelliert an eine ungebildete und manipulierbare Wählerschaft und Medienunternehmen, die prominenz- und skandalhungrig sind“ (43).

Wer sich bei diesen Sätzen an Donald Trump erinnert fühlt, aber auch an jüngste Entgleisungen der deutschen Politik denken muss, liegt durchaus richtig. Und genau hier liegt die nahezu erschütternde Relevanz dieses Buches, die eine erneute Lektüre nach über drei Jahren nicht nur ratsam, sondern geradezu notwendig macht. Denn obwohl Brown den Verfall der Demokratie im Zeitalter des Neoliberalismus detailliert und in erschreckend folgerichtiger Weise beschreibt, ist doch die zentrale Frage, die am Ende dieser Analyse steht: „Was geschieht, wenn die neoliberale Rationalität Erfolg hätte mit der vollständigen Umgestaltung sowohl des Staates als auch der Seele in ihrem Sinne? Was dann?“ (50) Brown lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass die Neoliberalisierung des demokratischen Gemeinwesens kein selbstregulierendes Konstrukt zurücklässt, sondern Staat und Gesellschaft so stark zerrüttet, dass nunmehr wieder Platz für Ressentiments und radikale Parolen entsteht und diese in einem vollständig entsozialisierten Gemeinwesen auch Gehör finden.

Daher ist es ebenso wenig verwunderlich, wenn einem als Leser auf Browns was-dann-Frage unweigerlich das Wort Faschismus durch den Kopf geht. Denn dort, wo „Staatsbürgerschaft [auf] bloße Mitgliedschaft“ (265) reduziert ist und nicht nur Politik und Wirtschaft von Verantwortung entbunden sind, sondern Bürgerschaft ebenso im Erbringen von Opfern besteht – wie zum Beispiel die Folgen der Austerität in Griechenland verdeutlichen – entstehen Parallelen zu einer Regierungsrationalität, die als Faschismus bezeichnet wird. Es ist daher sehr schade, dass Brown gewisse Konvergenzen zwar feststellt, diese aber nicht weiterverfolgt: „Das bedeutet nicht, dass der Neoliberalismus Faschismus ist oder dass wir in faschistischen Zeiten leben. Es geht nur darum, Konvergenzen zwischen Bestandteilen des Faschismus des 20. Jahrhunderts und unbeabsichtigten Wirkungen der heutigen neoliberalen Rationalität festzustellen.“ (264) Diese Konvergenzen bestehen in der uneingeschränkten Wertschätzung eines staatlichen Wirtschaftsprojektes, im Opfer für ein größeres Gut (Wirtschaftswachstum) sowie in der Abwertung von Politik, Öffentlichkeit und Intellektualität. Zwar liegt es auf der Hand, dass Neoliberalismus und Faschismus nicht strukturgleich sind, aber es liegt ebenso auf der Hand, dass es sich bei den rechtspopulistischen Erschütterungen des demokratischen Gemeinwesens keineswegs um unbeabsichtigte Nebeneffekte handelt, sondern vielmehr um womöglich in Kauf genommene Kollateralschäden. In Zeiten einer autoritären Regression gibt es zwischen Faschismus und Neoliberalismus möglicherweise mehr Konvergenzen als dies noch vor wenigen Jahren absehbar war. Browns aufwühlende Analyse öffnet einem die Augen für die akute Bedrohung der Demokratie und für die Frage, was folgen könnte, wenn eine ausgehöhlte Demokratie ihren Bestand nicht mehr aus eigener Kraft – oder aus eigenem Willen heraus – garantieren kann.

 

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Aus der Annotierten Bibliografie




Rezension

Spätmoderne Wohlstandsdemokratien beruhen auf zwei essenziellen Grundnarrativen, die unabdingbar für das Funktionieren der kapitalistischen Lebensweise sind: 1. Wachstum ist unbegrenzt möglich und 2. ein bestimmtes Maß an sozialer Ungleichheit legitim, solange alle vom Wohlstand profitieren können. Stephan Lessenich unterzieht dieses Modell westlicher Wohlstandsgesellschaften einer scharfsinnigen Kritik, da zur Selbststabilisierung dieser Lebensweise die negativen Effekte systematisch in andere Weltregionen auslagert werden.
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