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Isabelle de Keghel

Die Rekonstruktion der vorsowjetischen Geschichte. Identitätsdiskurse im neuen Russland

Hamburg: Lit 2006 (Osteuropa: Geschichte, Wirtschaft, Politik 38); 677 S.; brosch., 44,90 €; ISBN 978-3-8258-8201-3
Geschichtswiss. Diss. Tübingen; Gutachter: D. Geyer, D. Beyrau. – Der Zar, die Stolypinsche Reform und der Bürgerkrieg standen im Mittelpunkt einer Geschichtsrevision, die noch in der Sowjetunion unter Gorbatschow einsetzte. Die Autorin beschäftigt sich mit einem wichtigen Teil des Transformationsprozesses. Sie untersucht die verschiedenen, sich teilweise überlagernden Phasen dieser Neubewertung der russischen Geschichte von 1898 bis 1922 und deren Implikationen für die Neukonstruktion historischer Identitäten. Die anfangs staatlich gelenkte Revision der Geschichtsdeutung begann 1989 unter Gorbatschow mit der Absicht, durch eine neue innovative, aber systemimmanente Traditionsbildung (etwa durch eine Rückbesinnung auf den zuvor verfemten Bucharin) den Sozialismus als reform- und damit zukunftsfähig zu präsentieren. De Keghel schildert die sich allerdings bald einstellenden spill-over-Effekte, in deren Folge die offizielle Deutung der russischen und sowjetischen Geschichte immer weiter infrage gestellt wurde. „Immer häufiger war zu hören, dass der ‚Stalinismus’ keineswegs eine Verfälschung der eigentlich ‚guten’ sozialistischen Ideals gewesen war [...], sondern vielmehr dessen konsequente Realisierung“ (585). Einen Höhepunkt habe die Dekonstruktion des sowjetischen Geschichtsbilds mit der Diskussion über die Erschießung der Zarenfamilie erfahren, schreibt die Autorin, schließlich seien deren Überreste sogar feierlich umgebettet worden. Aus der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte schließt sie, dass 1995 eine neue Phase der Reintegration und des Austarierens begonnen hat, mit einer vorsichtigen Zurückholung der sowjetischen Vergangenheit. Auffällig sei deutliche Aufwertung historischer Einzelpersönlichkeiten. Zudem setze sich allgemein die Ansicht durch, „dass historische Alternativen zur tatsächlich eingetretenen Entwicklung stets möglich seien“ (601).
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.622.23 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Isabelle de Keghel: Die Rekonstruktion der vorsowjetischen Geschichte. Hamburg: 2006, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/21528-die-rekonstruktion-der-vorsowjetischen-geschichte_31766, veröffentlicht am 16.08.2007. Buch-Nr.: 31766 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken