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Ernst-Dieter Lantermann: Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus

30.01.2017
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
München, Karl Blessing Verlag 2016

„Wenn alles ungewiss wird, woher sollen wir dann noch wissen, wer wir sind, was uns im Kern ausmacht und was sich verflüchtigt?" (10) Angst und Unsicherheit sind die Auslöser für Radikalismus – so banal diese Aussage klingen mag, so tiefgehend ist Ernst-Dieter Lantermanns Analyse des Phänomens, die von diesem Startpunkt ausgeht.

Gemeinsam sei allen Radikalen der Mangel beziehungsweise Verlust des Selbstwertgefühls, die Unfähigkeit, sich auf Ungewissheit einzulassen sowie mangelndes Lerninteresse. Daraus bildeten sich mehrere Gruppen, die sich etwa unter der Überschrift „fremdenfeindlich“ subsumieren ließen: „verhärtete Selbstgerechte“, „Beleidigte, „Verbitterte“, „grollende Elite“ (66 ff.) Während sich unterschiedliche Grade an Bildung, Einkommen und sozialer Schicht ausmachen lassen, so die Aussage des Autors, finden diese Strömungen alle in der Xenophobie (häufig mit einer diffusen Ablehnung des Islams) ein neues Gefühl von Sicherheit in einem neuen Wir-Gefühl. Die Gruppe, die dem Einzelnen Halt gebe und klare Orientierungen verspreche, rechtfertige in der Folge aber auch Verhaltensweisen, die eigentlich mit den eigenen Werten der Betroffenen gar nicht zu vereinbaren seien. Dabei konzentriert sich Lantermann aber nicht auf die medial präsentesten Phänomene wie Salafismus, Pegida und AfD, sondern fragt nach den zugrunde liegenden Ursache dieser Phänomene, die er als Symptome versteht. Seine Beispiele klingen dabei zunächst eigenartig und umfassen eine Bandbreite von Fremdenhassern, Abtreibungsgegnern und Wutbürgern bis hin zu Fitnessfanatikern und Veganern.

Was verbindet aber eine Fremdenhasserin, einen Fitnessfanatiker und einen Hardcore-Veganer? Lantermanns Antwort lautet: Die Radikalität, mit der sie ihre jeweilige Weltsicht aufbauen, behaupten und zur Reduktion von Komplexität nutzen. Fremdenhasser teilen die Welt in Freund und Feind ein, Fitnessfanatiker bekommen mithilfe von Self-Trackern und Apps Werkzeuge an die Hand, um ihre Körperfunktionen messen, bewerten und mit anderen vergleichen zu können – mithin Kontrolle über sich selbst auszuüben. Diese Selbstoptimierung gibt Halt, da sich der Fitnessfanatiker Ziele setzen und erreichen kann. Veganismus ist, so der Autor, mehr als ein Ernährungsstil, er stiftet Sinn und gibt ebenfalls Halt. Der vegane Alltag wird geprägt durch die vermeintlich einzig richtige Art zu essen und zu leben. Das Tierwohl steht über allen anderen Interessen und der Veganer fühlt sich seinen Mitmenschen moralisch überlegen.

Um das physisch greifbare Schutzbedürfnis, das sich in gated communities manifestiert, geht es im sechsten Kapitel. Während es in Deutschland bisher eher ein Randphänomen gewesen ist, führt die neue Unsicherheit auch hierzulande zu einer zunehmenden Nachfrage nach entsprechenden Angeboten. Die im siebten Kapitel erörterten Körperoptimierer hingegen beschreiben einen Trend, der aus den USA kommend Deutschland längst erreicht hat – nach dem Motto: Wenn schon die Welt im Chaos versinkt, dann will ich zumindest meinen Körper kontrollieren und stählen. Allerdings versäumt es Lantermann, auf die Widersprüchlichkeit des Umstandes hinzuweisen, dass aus dem Wunsch, Kontrolle über das eigene Leben und den Körper zu erlangen, eine massive Datenflut entsteht, die sich Internetkonzerne und Versicherungen wieder zu eigen machen, um eben diese Kontrolle zu konterkarieren. Hier hätte sich ein schönes Beispiel anführen lassen, um die nichtintendierten Handlungsfolgen radikalen Denkens zu beleuchten.

Ein Lieblingsgebiet des Autors scheint das Thema Ernährung zu sein, das seiner Meinung nach zum Ausdruck eines Lebensstils geworden ist. In den vergangenen fünfzehn Jahren habe dieser Trend erheblich zugenommen. Dies gehe so weit, dass ganze Gruppen „vom gesunden Essen besessen“ (156) seien. Unbehagen bereiten ihm die pseudoreligiösen Bekehrungserlebnisse, beinahe eine Art Zutrittsvoraussetzung zu einem Zirkel, der wie die zuvor Beschriebenen die Verbindung zu Andersdenkenden radikal kappt – diskutiert wird nicht mehr. Fanatische Veganer führen, so Lantermanns Befund, letztlich sämtliche Übel der Welt „auf die Folgen der weltweiten Tiernutzung“ (159) zurück.

Gemeinsam ist allen dabei das Gefühl der Überlegenheit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Radikalisierung entsteht also aus einem Bedürfnis nach Sicherheit. Wer durch plötzliche Veränderungen und durch Unwägbarkeiten verunsichert wird, sucht sich kleine Lebensbereiche, in denen er die Gewissheit zurückgewinnt.

Einen Ausweg sieht Lantermann, Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel, im Verstehen der Unwägbarkeiten des Lebens als Chance, ein Glaube an die Bedeutung der Aktion vor dem Zustand der Sicherheit und eine beständige „Neugier“ (185) auf neue Erfahrungen. Er fordert ein „nachsichtig tolerantes, aber entschiedenes“ (187) Eintreten gegen Verabsolutierungen und einfache Lösungen.

Gerade wegen des breiten Fokus auf Phänomene des Radikalismus ist das Buch wichtig, die zentralen Mechanismen von Radikalisierungen werden freigelegt und ein Leitfaden zum Gegensteuern geboten – auch wenn dieser zu theoretisch ist, um einen direkten Praxisbezug zu haben. Insgesamt ist Lantermann mit Zahlen und Fakten recht sparsam und sein Werk hat daher eher den Charakter einer philosophischen Überlegung – gerade in der heutigen Zeit ist dies aber umso wichtiger.

 

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