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Nicolas Werth

Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Norbert Juraschitz

Berlin: Siedler Verlag 2006; 222 S.; Ln., 19,95 €; ISBN 978-3-88680-853-3
Am Anfang stand der utopische Plan, „die endlosen unberührten Weiten Sibiriens und Kasachstans zu besiedeln“ (17), ausgedacht 1933 vom Chef der politischen Polizei, Genrich Jagoda. Insgesamt zwei Millionen „antisowjetischer Elemente“ wollte er deshalb deportieren lassen, vor allem Bauern, die noch nicht in die Kolchosen gepresst worden waren oder irgendwie sonst sich den staatlichen Plänen widersetzten; außerdem sollte es Menschen treffen, die in den Städten ohne Papiere angetroffen wurden. Dieser von Stalin genehmigte Plan sah vor, dass die Deportierten sich nach spätestens zwei Jahren selbst verpflegen konnten. Der französische Zeitgeschichtler Werth belegt seine Schilderung der folgenden, fast unvorstellbaren Ereignisse anhand von Dokumenten einer Parteikommission, die im September 1933 nach Briefen und Hinweisen eines mutigen Genossen die wahren Umstände der Deportationen untersuchte. Die Geschichte steht – trotz und gerade wegen ihrer grausamen Begebenheiten – pars pro toto für die Unmenschlichkeit des Stalinismus: Werth schildert detailliert, wie die ersten sechstausend Opfer, die willkürlich und oft trotz gültiger Papiere zur Erfüllung von Quoten regelrecht eingefangen worden waren, ohne nennenswerte Vorbereitungen erst in ein Zwischenlager deportiert und dann, da keine Auffanglager zur Verfügung standen, auf einer kleinen Insel nahe der Einmündung der Nasina in den Ob ungefähr neunhundert Kilometer nördlich der sibirischen Stadt Tomsk ausgesetzt wurden. Ihre einzige Verpflegung war Mehl, das sie mangels irgendwelcher Öfen ungebacken und mit Flusswasser herunterwürgen mussten. Zwei Drittel der Deportierten kamen in den Wochen nach ihrer Aussetzung durch Hunger, Erschöpfung oder Krankheit um. Extrem sei diese Geschichte wegen ihrer Grausamkeit, schreibt Werth, „die in Kannibalismus gipfelte“ (17). Dieser Modernisierungsplan endete in staatsfreien, entzivilisierten Räumen und wurde auf Geheiß von Stalin abgebrochen. Statt weiterhin Deportierte auszusetzen, wurden sie nun in die Lager des GULAG gesperrt.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.622.25 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Nicolas Werth: Die Insel der Kannibalen. Berlin: 2006, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/26500-die-insel-der-kannibalen_30888, veröffentlicht am 25.06.2007. Buch-Nr.: 30888 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken