Skip to main content
Orlando Figes

Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter

Berlin: Berlin Verlag 2008; 1.036 S.; 2. Aufl.; geb., 34,- €; ISBN 978-3-8270-0745-2
„Die russische Sprache kennt zwei Worte für einen ‚Flüsterer’“, schreibt Figes, „scheptschuschtschi für jemanden, der aus Furcht, belauscht zu werden, sehr leise spricht, und scheptun für jemanden, der den Behörden etwas über andere zuflüstert, das heißt sie anschwärzt.“ (29) Beide Arten des Flüsterns waren in der stalinistischen Sowjetunion allgegenwärtig, wie der am Birkbeck College in London lehrende Historiker in dieser großartigen und gleichzeitig zerstörenden Erzählung zeigt. Sie ist das Ergebnis eines umfassenden Oral History-Projekts, das Figes mithilfe der russischen Memorial-Gesellschaft umsetzte und in dessen Zuge Überlebende der Stalinzeit interviewt und deren Familienarchive ausgewertet wurden. Figes misst der Familienerinnerung eine hohe Bedeutung als Gegengewicht zur offiziellen Darstellung der Sowjetgeschichte bei. Und tatsächlich gelingt es ihm eindrucksvoll, am Beispiel ausgewählter Familien, die einen repräsentativen Querschnitt durch die Gesellschaft bilden, ein unmittelbares Bild des Stalinismus zu zeichnen. Figes hat dabei die Erinnerungen nicht nach Familien sortiert, sondern chronologisch in die wichtigen Phasen der sowjetischen Entwicklung eingeordnet. Damit wird ohne weiteren Kommentar sichtbar, dass die Menschen keine Einzelschicksale erlitten, sondern einer breit angelegten Repression unterworfen waren – Familien wurden willkürlich auseinander gerissen, Kinder gezwungen, sich von ihren Eltern loszusagen und an die Täter anzupassen. Die Grundlage dafür, dass die sowjetische Gesellschaft dieser Repression überhaupt unterworfen werden konnte, wurde in den ersten Jahren nach der Revolution gelegt, als viele Ehen beliebige Verbindungen wurden und Eltern ihre Kinder vernachlässigten oder gar verließen, um ein neuer Mensch in einem kollektiven Geist zu werden. Dieses kollektive Streben erfasste die ganze Gesellschaft, die sich geradezu gläubig dem Stalinismus unterwarf – der als Sinngebung für alles Leid von den meisten Menschen, mochten sie noch so angsterfüllt sein, nicht angezweifelt wurde. (Zu den Interviews, Fotos u. Ä. siehe www.orlandofiges.com.)
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.622.25 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Orlando Figes: Die Flüsterer. Berlin: 2008, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/29724-die-fluesterer_35200, veröffentlicht am 09.12.2008. Buch-Nr.: 35200 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken