Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers. Analyse einer Argumentationsfigur in der (Grundrechts-)Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Rechtswiss. Habilitationsschrift Mainz; Begutachtung: F. Hufen, M. Cornils. – Das Konzept einer – mehr oder weniger weitreichenden – Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers ist demokratietheoretisch naheliegend, zugleich aber rechtsstaatlich nicht unproblematisch, verweist es doch gerade besonders strittige Fragen aus dem justiziablen Bereich (zurück) in den Sektor des Politischen. Es wirkt in mancherlei Hinsicht als Kompromissformel, mittels derer ein relativ umfassender (verfassungsgerichtlicher) Kontrollanspruch mit der spezifischen Legitimation, Autonomie und Eigenrationalität des politischen Subsystems verbunden werden kann. Christian Bickenbach unternimmt vor dem Hintergrund dieses grundlegenden Spannungsverhältnisses den Versuch, diese Argumentationsfigur anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu explizieren, zu analysieren und zu systematisieren. Zu diesem Zweck erfolgt im ersten Teil zunächst eine Bestandsaufnahme und Typologisierung der entsprechenden Verwendungszusammenhänge einschließlich der subkutanen Grundannahmen und Methodenbezüge. Der Verfasser legt dabei Wert auf eine begriffliche Differenzierung zwischen dem kognitiven Prognose‑ und dem (diesen prädeterminierenden) voluntativen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, gesteht aber zugleich ein, dass sich diese idealtypische Unterscheidung nicht trennscharf durchführen lässt. Im größeren zweiten Teil entfaltet Bickenbach sodann in vier Schritten die für die konkrete Ausgestaltung maßgeblichen institutionellen und inhaltlichen Vorgaben des Verfassungsrechts: Neben dem Gewaltenteilungsprinzip sind dies die Gestaltungsmacht des Gesetzgebers, dessen unmittelbare Grundrechtsbindung und seine Kontrolle durch die (Bundes‑)Verfassungsgerichtsbarkeit. Immer wieder betont der Verfasser das temporal‑prozedurale Moment der Argumentationsmuster; die Einschätzungsprärogative präsentiert er deshalb auch als „Dividende der im Gesetzgebungsverfahren erfüllten Obliegenheiten“ (535). Im Übrigen bleibt Bickenbach nicht bei einer bloßen Kritik der bisherigen Praxis stehen, sondern unterbreitet einen eigenen Vorschlag, der tendenziell auf eine intensivierte und zeitlich auf die ex‑post‑Perspektive bezogene Gerichtskontrolle abzielt.