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Die Anfeindung. Rechtspopulistische und rechtsextreme Phänomene im postsowjetischen Raum

27.10.2017
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Natalie Wohlleben, Dipl.-Politologin

Die Hoffnungen waren groß, damals, als das sowjetische Imperium unterging. Die Staaten des vormaligen Ostblocks, die eigentlich eher in der Mitte Europas liegen, schlugen schnell den Weg in Richtung Brüssel ein, gaben sich neue Verfassungen und etablierten den Rechtsstaat, wurden liberale Demokratien und Mitglieder der Europäischen Union. Unstrittig haben viele Menschen in Polen, Tschechien und Ungarn, vor allem aber auch in den neuen Bundesländern, die ein Teil des postsowjetischen Raums sind, von dieser Entwicklung profitiert, hinsichtlich ihrer Freiheit, ihrer bürgerlichen Rechte und materiell. Trotzdem gewinnen gegenläufige Phänomene an Kraft, die die im vergangenen Vierteljahrhundert erzielten Fortschritte zu zerstören drohen: Rechtspopulismus und Rechtsextremismus.

Die Analyse beginnt zunächst im eigenen Land. Klaus Schroeder erläutert in seinem Essay die Entstehung und Entwicklung von Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Ostdeutschland als mehrdimensionales Politikum. Als Determinanten nennt er vor allem die Nachwirkungen der politischen Sozialisation in der DDR und die durch die Wiedervereinigung entstandenen sozialen Umbruchprozesse. Im Hintergrund steht dabei der Befund, dass es bereits in der DDR offene Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus gegeben hat. Flankiert werden seine Ausführungen mit einer Zusammenstellung verschiedener Analysen unter dem Titel „An der Oberfläche“ – hat doch mit dem Wahlerfolg der AfD in den neuen Bundesländern ein ostdeutsches Sonderbewusstsein einen Weg an die Öffentlichkeit gefunden, in dem sich das Gefühl, Modernisierungsverlierer zu sein, mit Fremdenfeindlichkeit verbunden hat. Diese These vertritt auch Petra Köpping in ihrem Buch „Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten“, das in einer Rezension vorgestellt wird.Gestützt werden diese Erkenntnisse, die maßgeblich auf empirischen Daten aufbauen, durch die Literatur. Diese wird in „Annäherung an ein Phänomen“ in einer Auswahl von Kurzrezensionen vorgestellt.

Rezensiert werden außerdem die Bände „PEGIDA – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und ‚Wende‘-Enttäuschung?“ und „Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät“. In dem Beitrag „Die Transformation der ehemaligen DDR-Gesellschaft im Fokus“ werden Institute der Forschung und der politischen Bildung kurz vorgestellt.

Der Annahme, dass die Sozialisation in der kommunistischen Diktatur bis in die Gegenwart hinein nachwirkt, wird auch in dem Sammelband „Die Prägung von Mentalität und politischem Denken durch die Erfahrung totalitärer Herrschaft“ nachgegangen. Michael Minkenberg geht in „The Radical Right in Eastern Europe. Democracy under Siege?“ der Frage, nach ob die radikale Rechte vielleicht sogar eine erwartbare Nebenfolge eines beschleunigten Modernisierungsprozesses ist. Dabei zieht er zur Analyse auch die Geschichte der radikalen Rechte in Westeuropa heran. Reinhold Vetter beschäftigt sich dezidiert mit dem „Nationalismus im Osten Europas“ und fragt, wie in einer weiteren Rezension gezeigt wird, was Jarosław Kaczyński und Viktor Orbán außerdem mit Marine Le Pen und Geert Wilders verbindet: Dieser neue/alte europäische Nationalismus zeige sich geprägt durch Glorifizierungen von nationaler Homogenität, Traditionswerten und partikularen Leitkulturen einerseits und andererseits durch die Abwehr alles Fremden, sei es in Gestalt von Flüchtlingen, sei es in Gestalt eines kulturellen oder religiösen Pluralismus. Droht damit „Das Ende der liberalen Demokratie“? Eine Auswahl an Analysen zeigt auf, dass in Ostmitteleuropa tatsächlich dieser Gefahr entgegengewirkt werden muss. In der Auswahlbibliografie „Die Frage nach der demokratischen Substanz“ wird ein auf die Thematik bezogener, vergleichender Blick auf die Transformationen in Ostmitteleuropa geworfen.

Am Beispiel Polens wird deutlich, warum gerade diese Staaten anfälliger für die Anfeindung ihrer Demokratien von rechts sind. Wie Klaus Bachmann in seinem Buch „Der Bruch“ deutlich macht, konfrontierte der Systemumbruch die Gesellschaften ad hoc mit einem wirtschaftlichen wie kulturellen Wandel – der im Westen Europas zuvor Jahrzehnte Zeit hatte, sich zu entwickeln. In Polen bestehe aber nach wie vor ein deutlicher Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie, schreibt Bachmann, der sich in einem Konflikt zwischen denjenigen, die postmaterialistisch und emanzipatorisch denken, und anderen, die materialistischen Traditionen anhängen, manifestiere. Die PiS-Partei habe sich erfolgreich gegen Wertewandel und mit Fremdenfeindlichkeit positioniert, aber erst durch das Wahlsystem die absolute Mehrheit erlangt. Damit sei sie nicht zu dem Verfassungsbruch legitimiert, durch den Polens Rechtsstaatlichkeit und Demokratie jetzt akut gefährdet seien. Ergänzt wird diese Rezension durch die Auswahlbibliografie „Der lange Weg einer Zivilgesellschaft. Über die Vergangenheit der polnischen Gegenwart“.

In seiner ausführlichen Analyse „Das Ungarn-Bild der deutschen Medien“ vertritt Zsolt K. Lengyel die These, dass die Wahrnehmung von Rechtspopulismus und Rechtskonservatismus Schlagseite erlitten hat. Seiner Ansicht nach zeugen viele (Ab-)Wertungen von mangelnder Landeskenntnis und spiegeln überdies den Versuch, die Schlussfolgerungen aus der deutschen Vergangenheitsbewältigung für die politische Kultur auf andere Länder zu übertragen. Die Frage, ob Viktor Orbán tatsächlich ein europafeindlicher Rechtspopulist ist, kann dieser Analyse zufolge so aber nicht beantwortet werden. Weitere Informationen über Ungarn sind den unter dem Titel „Illegitim, aber nicht illegal“ zusammengestellten Kurzrezensionen zu entnehmen, weitere Beiträge folgen.

 

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