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Lucio Magri

Der Schneider von Ulm. Eine mögliche Geschichte der KPI

Hamburg/Berlin: Argument 2015 (Berliner Beiträge zur kritischen Theorie 15); XXIII, 458 S.; geb., 46,- €; ISBN 978-3-86754-106-0
Der parteipolitisch organisierte Kommunismus in Italien hat mit seinen bis zu zwei Millionen Mitgliedern das Land und seine Geschichte im 20. Jahrhundert ohne Zweifel entscheidend mitgeprägt. Lucio Magri (1932‑2011) hat an dieser Geschichte maßgeblich mitgewirkt, erst in der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), nach seinem Ausschluss wegen öffentlich geäußerter Solidarität mit dem Prager Frühling dann auch jenseits der Partei mit der von ihm mitgegründeten Zeitschrift „il manifesto“. In diesem, bereits 2009 in italienischer Sprache erschienenen und nach einem Gedicht Bertold Brechts betitelten, Band skizziert Magri aus autobiografischer Perspektive die Geschichte der PCI. Von der Gründung 1921 über verschiedene Regierungsbeteiligungen in den 1970er‑Jahren bis hin zur Auflösung 1991 zeichnet er ein Bild, das immer wieder auf eine große Zerrissenheit, ja auf eine tiefe Ambivalenz einer im westeuropäischen Vergleich sehr bedeutenden politischen Bewegung der Linken hindeutet. Erfahrbar wird diese Ambivalenz an zentralen Figuren, zunächst historisch Antonio Gramsci, jener „große Heilige des Antifaschismus“ (48), und dann Stalin und mit ihm der Gulag und der Totalitarismus von links. Und dann kam der Prager Frühling, der einerseits als eine vielversprechende Reformbewegung hin zur realen Umsetzung eines lebenswerten Sozialismus begriffen wurde, von anderen Teilen der Partei und linken Splittergruppen jedoch lediglich Anlass für eine Solidarisierung mit den „Panzern Moskaus“ (247) bot. Was also tun? Stimmt es tatsächlich, dass der „neoliberale Rausch, der das letzte Jahrzehnt geprägt hat, verfliegt“ (429)? Gibt es noch Wege der gemeinsamen politischen Aktion, die sich angesichts einer zunehmenden Postdemokratisierung und neoliberaler Hegemonie beschreiten ließen? Dieses Buch jedenfalls, jenes „Geschenk einer Verlängerung“, wie Magri es in seinem Abschiedsbrief bezeichnet hat, ist tatsächlich genau das: ein unglaublich wertvoller, historisch detailreicher und klar lesbarer Rückblick auf zentrale politische Konfliktlinien des 20. Jahrhunderts. Deren soziale wie ökonomische Sprengkraft hat auch im 21. Jahrhundert kaum an Relevanz eingebüßt. Über ihre Lösung weiter nachzudenken lohnt sich: „Ich will natürlich nicht ausschließen“, so Magri, „dass diese Ideen in Zukunft in neuer Form wieder auftauchen werden, aber das wird lange dauern, und wir wissen nicht, wo und wie. Auf jeden Fall wird es ohne mein Zutun geschehen.“ (451) Dieses Buch widerlegt zumindest den letzten Satz.
{LEM}
Rubrizierung: 2.612.222.1 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Lucio Magri: Der Schneider von Ulm. Hamburg/Berlin: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38472-der-schneider-von-ulm_46818, veröffentlicht am 28.05.2015. Buch-Nr.: 46818 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken