Außen- und Sicherheitspolitik
Stefan A. Goertz: Der neue Terrorismus. Neue Akteure, neue Strategien, neue Taktiken und neue Mittel
23.11.2017Stefan Goertz, Dozent an der Hochschule des Bundes in Lübeck, widmet sich dem, was er als „neuen Terrorismus“ versteht – der Titel erinnert nicht von ungefähr an Herfried Münklers „Die neuen Kriege“. Dieses „Neue“ identifiziert der Politikwissenschaftler Goertz sowohl quantitativ (Anzahl der terroristischen Straftaten und der entsprechenden Gruppen beziehungsweise Gefährder) als auch qualitativ (konsistente Ideologie, verbreitetere Kooperationen, Nutzung neuer Medien, Zusammenarbeit mit kriminellen Organisationen und eine qualitative Steigerung in Taktik und Strategie). Er fasst den aktuellen, auch internationalen Forschungsstand dazu knapp aber zielführend zusammen und greift dabei auch auf neueste Ergebnisse und Quellen zurück. Zugleich werden kurz die wichtigsten Vordenker des gegenwärtigen islamischen Extremismus in einer sinnvollen Auswahl vorgestellt.
Zunächst benennt Goertz die zentralen Komponenten seines Untersuchungsgegenstandes korrekt: „Die Theologie und Strategie des neuen Jihad des 21. Jahrhunderts entspringt einem dualistischen, manichäischen Weltbild, in dem entweder ‚der Islam‘ dominiert oder ‚der Islam‘ dominiert wird. [...] Der dezentralisierte, individualisierte Jihad der Gegenwart ist die operativ-taktische Umsetzung der Theologie und Doktrin der Prediger des neuen Jihad.“ (43 f.) Bei der Betrachtung der Selbstmordattentate attestiert er ebenfalls richtig, „dass sie zu einem operativ-taktischen regelmäßig eingesetzten Mittel des islamistischen Terrorismus geworden sind, welches den Wert eines operativ-taktischen game changers besitzt“ (52). Entsprechend hat vor allem der sogenannte Islamische Staat bereits 2015 erkannt, dass ein einzelner Freiwilliger in Syrien oder dem Irak keinen taktischen Unterschied erzeugt, während ein einzelner Attentäter auf einem Weihnachtsmarkt in Berlin einen strategischen Unterschied ausmachen kann. Gerade vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die Täter nicht als geistig Verwirrte zu betrachten, sondern auch einen Blick auf die strategischen Hintergründe zu werfen.
In diesen Kontext gehört auch die Feststellung, dass die „Grenzen zwischen Krieg, Terrorismus und Organisierter Kriminalität [...] sich [...] seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts und den Kleinen Kriegen im Nahen und Mittleren Osten komplett aufgelöst [...] haben.“ (100)
Sowohl diese Verbindungen als auch die nötigen Ausbildungs- und Trainingslager bedürfen einer gewissen territorialen Kontrolle und können daher dort entstehen, wo die Durchgriffsmacht des Staates stark eingeschränkt oder nicht mehr existent ist. Hier verweist Goertz zu Recht darauf, dass der Großteil der westlichen Interventionen der vergangenen Jahrzehnte eben nicht zu einem Mehr an Sicherheit und Stabilität geführt hat. Gerade bei militärischen Interventionen lässt sich so zeigen, dass die Diktatoren, die gegebenenfalls mit militärischen Mitteln beseitigt wurden, häufig ein Machtvakuum hinterließen, das von einer Vielzahl krimineller oder terroristischer Akteure gefüllt wird. Ebenfalls richtig verweist der Autor dabei auf nicht-intendierte Folgen solcher Interventionen, wie das nachfolgende Zitat für Afghanistan sehr deutlich zeigt: Das Land „ist nach der westlichen Intervention 2001 innerhalb kürzester Zeit zu einem weltweiten key player im Bereich des Anbaus und Verkaufs von Opium geworden, wovon zahlreiche Akteure der Organisierten Kriminalität und des islamistischen Terrorismus profitiert und die Qualität und Quantität zahlreicher terroristischer Anschläge gegen die neue afghanische Staatsform und die westlichen, demokratischen Akteure überhaupt erst ermöglicht haben.“ (76)
Bisher fehlen ebenfalls Belege dafür, dass failing oder failed states tatsächlich durch eine (militärische) Intervention nachhaltig stabilisiert werden können.
Im vierten Kapitel bringt Goertz die Bedeutung neuer technischer Mittel und Medien für den neuen Terrorismus zum Ausdruck. Die aktuellen Konflikte zeigen deutlich eine nahezu Echtzeitverbindung der jeweiligen Schlachtfelder beziehungsweise Operationen zu einem potenziellen Unterstützerumfeld in anderen islamischen Ländern oder im Westen. Dies dient einmal dem Fundraising der jeweiligen Organisation, aber auch der Anwerbung weiterer Kämpfer beziehungsweise der Bottom-up-Mobilisierung von Attentätern im Westen. In der Professionalisierung der Nutzung der neuen Medien sieht Goertz ein weiteres Merkmal des „neuen“ Terrorismus.
Als Konsequenz der Verzahnung von Akteuren und Strategien ist die Sicherheitsarchitektur westlicher, demokratischer Staaten – aufgrund ihrer Trennung von äußerer und innerer Sicherheit – durch die neuen hybriden Akteure besonders herausgefordert und die Gewährleistung ihrer Aufgaben gefährdet. Klassische Sicherheitsmechanismen reichen hier nicht mehr aus und eine stärkere Betonung des Aspektes der vernetzen Sicherheit ist geboten.
Positiv anzumerken ist die Adressatenorientierung des Autors. Eine klare und durchgängige Struktur ermöglicht auch Nicht-Fachleuten, seinen Ausführungen zu folgen. Durch Definitionen und Zwischenfazits wird verhindert, dass diejenigen, die sich orientieren wollen, in der Thematik verlorengehen. Da er gleichzeitig den aktuellen Stand der Terrorismusforschung knapp aber prägnant zusammenfasst, eignet sich das Buch sowohl für die interessierte Öffentlichkeit als auch für eine akademisch mit der Thematik befasste Leserschaft.