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Stefan A. Goertz: Der neue Terrorismus. Neue Akteure, neue Strategien, neue Taktiken und neue Mittel

23.11.2017
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2018

Stefan Goertz, Dozent an der Hochschule des Bundes in Lübeck, widmet sich dem, was er als „neuen Terrorismus“ versteht – der Titel erinnert nicht von ungefähr an Herfried Münklers „Die neuen Kriege“. Dieses „Neue“ identifiziert der Politikwissenschaftler Goertz sowohl quantitativ (Anzahl der terroristischen Straftaten und der entsprechenden Gruppen beziehungsweise Gefährder) als auch qualitativ (konsistente Ideologie, verbreitetere Kooperationen, Nutzung neuer Medien, Zusammenarbeit mit kriminellen Organisationen und eine qualitative Steigerung in Taktik und Strategie). Er fasst den aktuellen, auch internationalen Forschungsstand dazu knapp aber zielführend zusammen und greift dabei auch auf neueste Ergebnisse und Quellen zurück. Zugleich werden kurz die wichtigsten Vordenker des gegenwärtigen islamischen Extremismus in einer sinnvollen Auswahl vorgestellt.

Zunächst benennt Goertz die zentralen Komponenten seines Untersuchungsgegenstandes korrekt: „Die Theologie und Strategie des neuen Jihad des 21. Jahrhunderts entspringt einem dualistischen, manichäischen Weltbild, in dem entweder ‚der Islam‘ dominiert oder ‚der Islam‘ dominiert wird. [...] Der dezentralisierte, individualisierte Jihad der Gegenwart ist die operativ-taktische Umsetzung der Theologie und Doktrin der Prediger des neuen Jihad.“ (43 f.) Bei der Betrachtung der Selbstmordattentate attestiert er ebenfalls richtig, „dass sie zu einem operativ-taktischen regelmäßig eingesetzten Mittel des islamistischen Terrorismus geworden sind, welches den Wert eines operativ-taktischen game changers besitzt“ (52). Entsprechend hat vor allem der sogenannte Islamische Staat bereits 2015 erkannt, dass ein einzelner Freiwilliger in Syrien oder dem Irak keinen taktischen Unterschied erzeugt, während ein einzelner Attentäter auf einem Weihnachtsmarkt in Berlin einen strategischen Unterschied ausmachen kann. Gerade vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die Täter nicht als geistig Verwirrte zu betrachten, sondern auch einen Blick auf die strategischen Hintergründe zu werfen.

In diesen Kontext gehört auch die Feststellung, dass die „Grenzen zwischen Krieg, Terrorismus und Organisierter Kriminalität [...] sich [...] seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts und den Kleinen Kriegen im Nahen und Mittleren Osten komplett aufgelöst [...] haben.“ (100)

Sowohl diese Verbindungen als auch die nötigen Ausbildungs- und Trainingslager bedürfen einer gewissen territorialen Kontrolle und können daher dort entstehen, wo die Durchgriffsmacht des Staates stark eingeschränkt oder nicht mehr existent ist. Hier verweist Goertz zu Recht darauf, dass der Großteil der westlichen Interventionen der vergangenen Jahrzehnte eben nicht zu einem Mehr an Sicherheit und Stabilität geführt hat. Gerade bei militärischen Interventionen lässt sich so zeigen, dass die Diktatoren, die gegebenenfalls mit militärischen Mitteln beseitigt wurden, häufig ein Machtvakuum hinterließen, das von einer Vielzahl krimineller oder terroristischer Akteure gefüllt wird. Ebenfalls richtig verweist der Autor dabei auf nicht-intendierte Folgen solcher Interventionen, wie das nachfolgende Zitat für Afghanistan sehr deutlich zeigt: Das Land „ist nach der westlichen Intervention 2001 innerhalb kürzester Zeit zu einem weltweiten key player im Bereich des Anbaus und Verkaufs von Opium geworden, wovon zahlreiche Akteure der Organisierten Kriminalität und des islamistischen Terrorismus profitiert und die Qualität und Quantität zahlreicher terroristischer Anschläge gegen die neue afghanische Staatsform und die westlichen, demokratischen Akteure überhaupt erst ermöglicht haben.“ (76)

Bisher fehlen ebenfalls Belege dafür, dass failing oder failed states tatsächlich durch eine (militärische) Intervention nachhaltig stabilisiert werden können.

Im vierten Kapitel bringt Goertz die Bedeutung neuer technischer Mittel und Medien für den neuen Terrorismus zum Ausdruck. Die aktuellen Konflikte zeigen deutlich eine nahezu Echtzeitverbindung der jeweiligen Schlachtfelder beziehungsweise Operationen zu einem potenziellen Unterstützerumfeld in anderen islamischen Ländern oder im Westen. Dies dient einmal dem Fundraising der jeweiligen Organisation, aber auch der Anwerbung weiterer Kämpfer beziehungsweise der Bottom-up-Mobilisierung von Attentätern im Westen. In der Professionalisierung der Nutzung der neuen Medien sieht Goertz ein weiteres Merkmal des „neuen“ Terrorismus.

Als Konsequenz der Verzahnung von Akteuren und Strategien ist die Sicherheitsarchitektur westlicher, demokratischer Staaten – aufgrund ihrer Trennung von äußerer und innerer Sicherheit – durch die neuen hybriden Akteure besonders herausgefordert und die Gewährleistung ihrer Aufgaben gefährdet. Klassische Sicherheitsmechanismen reichen hier nicht mehr aus und eine stärkere Betonung des Aspektes der vernetzen Sicherheit ist geboten.

Positiv anzumerken ist die Adressatenorientierung des Autors. Eine klare und durchgängige Struktur ermöglicht auch Nicht-Fachleuten, seinen Ausführungen zu folgen. Durch Definitionen und Zwischenfazits wird verhindert, dass diejenigen, die sich orientieren wollen, in der Thematik verlorengehen. Da er gleichzeitig den aktuellen Stand der Terrorismusforschung knapp aber prägnant zusammenfasst, eignet sich das Buch sowohl für die interessierte Öffentlichkeit als auch für eine akademisch mit der Thematik befasste Leserschaft.

 

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Daniel L. Byman
What the Manchester attack shows us about how the terrorism danger has evolved
Brookings Institution, Order from Chaos, 24. Mai 2017

Der Autor zeichnet die Entwicklung, die die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus in Nordamerika und Europa in den vergangenen Jahrzehnten genommen hat, schlaglichtartig nach. Als Zäsur wird dabei 9/11 herausgearbeitet, seitdem suchen erst Al-Qaida und dann auch der sogenannte Islamistische Staat zivile Anschlagsziele außerhalb ihrer eigenen Herkunftsregionen. Die Terrororganisationen nutzen dabei die Medien, so der Autor, um Kämpfer zu rekrutieren – die Hisbollah verfügt sogar über einen eigenen Fernsehsender. Byman problematisiert außerdem den Begriff des Terrorismus und empfiehlt eine differenzierte Betrachtung, um dieser Herausforderung erfolgreich begegnen zu können.

 

Guido Steinberg
Islamistischer Terrorismus. Sechs Thesen auf dem Prüfstand
Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V., Internationale Politik 3, Mai/Juni 2017

Soll in Deutschland der islamistische Terrorismus zielgerichtet bekämpft werden, sind nach Ansicht von Guido Steinberg zunächst einige Grundannahmen zu klären. Zu beachten sei, dass die Politik des Westens, so eine seiner Kernaussagen, nur zu einem weitaus kleineren Teil als zumeist angenommen Verantwortung für Entstehung und Entwicklung dieses Terrorismus trage. Dieser sei vielmehr in der religiösen Ideologie des Islamismus verwurzelt. Repressive Sicherheitsvorkehrungen seien daher keine alleinige Lösung, präventive Maßnahmen sollten stärker auf die Bekämpfung der religiös-ideologischen Grundlagen abzielen.

 

Raphael Bossong
Die EU-Zusammenarbeit beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus Fortschritte seit 2015 und künftige Prioritäten
SWP-Aktuell 2017, Februar 2017

Die EU spiele seit Jahren bei der Eindämmung des internationalen Terrorismus eine konstruktive Rolle, schreibt Raphael Bossong. „Insbesondere hat sie Rahmengesetze für die strafrechtliche Verfolgung verabschiedet, Informationsnetzwerke ausgebaut und Sicherheitsstandards (u. a. im Flugverkehr) erhöht. Bei der Aufarbeitung von Anschlägen werden aber immer wieder unvorhergesehene Schwachstellen sichtbar, die neue Desiderate und auch Grenzen der EU-Antiterrorismuspolitik aufzeigen.“ (1) Nach Ansicht des Autors sollten unter anderem daher die institutionellen Formate der Zusammenarbeit in Europa – auch hinsichtlich des Datenaustausches – weiterentwickelt und die Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern verbessert werden.

 

Rezension

Stefan Hansen / Joachim Krause (Hrsg.)

Jahrbuch Terrorismus 2015/2016

Herausgegeben vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel gGmbH (ISPK). Opladen u. a., Verlag Barbara Budrich 2017 (Jahrbuch Terrorismus 7)

Der Islamische Staat (IS) steht im Mittelpunkt zahlreicher Beiträge dieser Ausgabe des Jahrbuches Terrorismus, das das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK) herausgibt. Skizziert wird nicht nur die Entwicklung des IS einschließlich der versuchten Staatsgründung, sondern auch die Präsenz und Relevanz apokalyptischer Vorstellungen in dessen Ideologie, die von einem Großteil seiner Anhängerschaft tatsächlich geglaubt wird. Weitere Beiträge sind rechtsextremistischen Phänomenen wie dem „Lone Wolf“ sowie der gegenwärtigen rechten Radikalisierung in Osteuropa gewidmet.
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Aus der Annotierten Bibliografie

Felix Wassermann

Asymmetrische Kriege. Eine politiktheoretische Untersuchung zur Kriegführung im 21. Jahrhundert

Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2015 ; 357 S. ; 29,90 €; ISBN 978-3-593-50314-1
Diss. HU Berlin; Begutachtung: H. Münkler, C. Daase. – Das Phänomen Krieg ist Bestandteil der menschlichen Existenz. Daher wundert es nicht, dass immer wieder neu versucht wird, es zu analysieren, zu kategorisieren und zu verstehen. Seit der Antike wurden ganze Theoriegebäude errichtet, um den klassischen, den großen Krieg zu beschreiben. Doch dieser Krieg verändert sich, er passt sich wie ein Chamäleon den jeweiligen Konflikten an, erfindet sich immer wieder neu. Wenn es nach 1945 ein verbindendes Element gibt, so ist es die ...weiterlesen



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