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Deborah Lipstadt: Der neue Antisemitismus

28.11.2018
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Autorenprofil
Vincent Wolff, M.P.P.
Übersetzt von Stephan Pauli.
München, Piper Verlag 2018

Erfahrungen mit dem Irrationalen

„Damit Juden als Volk überleben und gedeihen können, bedarf es weder eines absoluten Pessimismus noch eines naiven Optimismus, sondern Realismus“ (272), schließt die Historikerin Deborah Lipstadt ihr Buch über den neuen Antisemitismus. Ihr bestärkendes Fazit kann jedoch nicht über die Bedeutung des gegenwärtig offen zutage tretenden Antisemitismus hinwegkommen. Das Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern als E-Mail-Verkehr zwischen der Autorin und zwei fiktiven Personen, einer Studentin und einem Kollegen, aufgebaut. Anhand unterschiedlicher persönlicher Erfahrungen erläutern sie alltägliche und öffentliche Erfahrungen mit Judenhass. Gerade dies sorgt für eine besondere Schwere.

In jüngerer Zeit sind mehrere Werke zum Antisemitismus und seiner gegenwärtigen Ausprägung erschienen. Was Lipstadts Buch ausmacht, ist die literarische Persönlichkeit, der unmittelbar spürbare Schmerz und die Menge an aktuellen Fällen, in denen sich Judenhass offen äußert und auch verteidigt wird. Der Leser wird oftmals den Eindruck nicht los, dass Jüdinnen und Juden in ihrem Leid allein dastehen, während sich die Mehrheitsgesellschaft hinter Floskeln, Beschwichtigungen und Gleichgültigkeit verschanzt.

Das Buch ist hochaktuell und doch zeitlos. Wiederholt unterstreicht Lipstadt anhand realer Beispiele, wie wenig der Antisemitismus mit anderen Formen der Diskriminierung vergleichbar, wie zentral dabei deren Irrationalität und wie langlebig der Judenhass ist: Es ist eine Verschwörungstheorie, die Menschen in vermeintlich unerklärbaren Situationen eine intentionale Erklärung bietet – es sind die Juden, die immer das Böse wollen und die Welt kontrollieren. Anhand sowjetischer Witze wird dies eindrucksvoll erläutert.

Lipstadt definiert ‚den‘ Antisemiten als jemanden, „der Juden mehr hasst, als absolut notwendig ist“ (25), erklärt aber gleichzeitig, dass eine allgemeingültige Definition unter Experten nicht bestehe. Mit Blick auf das berühmte Urteil Jacobellis v. Ohio des Obersten Gerichtshofs in den Vereinigten Staaten stellt sie fest, dass Antisemitismus zu erkennen sei, wenn er auftrete. Seine Besonderheit sei die Tatsache, dass er nicht einfach nur der Hass auf Fremdes sei: „Die Juden sind nicht ein Feind, sondern der ultimative Feind“ (33, Hervorhebung im Original).

Lipstadt ist hoch anzurechnen, dass sie sich politisch nicht auf eine Seite schlägt. Mit chirurgischer Präzision filetiert sie den Antisemitismus eines Jeremy Corbyn sowie Donald Trumps antisemitische Kampagne. Dass sich der aktuelle US-Präsident als Judenfreund bezeichne, mache den Antisemitismus in seinem Umfeld nicht besser, denn „Philosemiten [sind] Antisemiten[, …] die Juden mögen“ (63). Bei dem britischen Labour-Vorsitzenden Corbyn erkennt sie in seinen unverrückbaren ideologischen Glaubenssätzen eine tief verwurzelte antisemitische Grundeinstellung. An dieser Stelle überzeugt Lipstadt durch eine besondere Kenntnis vieler Einzelsituationen in Corbyns Laufbahn, die in anderen Publikationen kaum aufgegriffen werden. Diese Recherche ist beeindruckend.

Besondere Aufmerksamkeit schenkt Lipstadt den Entwicklungen um Salman Rushdie, der Fatwa, die auf ihn angesetzt war, sowie die mangelnde Solidarität durch andere Intellektuelle im Westen. Das halbherzige Einstehen für die Werte, die in Sonntagsreden gepriesen werden, sieht sie in beiden Fällen bestätigt. Der Fall Rushdie sei den antisemitischen Attacken in seinen Ausprägungen nicht unähnlich – darauf kommt Lipstadt wiederholt zu sprechen.

Außerdem analysiert die Autorin mit größter Sorgfalt die Situation jüdischen Lebens in Frankreich, das in der europäischen Öffentlichkeit wenig Beachtung findet. Weiterhin greift sie Victor Orbán und die polnischen Nationalisten an und ist zutiefst über die Sicherheit von Synagogen in Deutschland besorgt. Auch vor harscher Kritik an Israels Premierminister Benjamin Netanyahu weicht sie nicht zurück, dessen Nähe zu Orbán ihr besonders missfällt.

Einen großen Teil des Buchs widmet sie zudem der Campus-Kultur in den USA und den zahlreichen antisemitischen Ausschreitungen unter dem Banner des Antizionismus. Dabei spielt sie den Judenhass weißer Nationalisten in den USA nicht herunter und vergleicht ihn auch nicht – beide stellen erhebliche Bedrohungen jüdischen Lebens in den Vereinigten Staaten dar und gefährden nicht nur die Jüdinnen und Juden in Amerika, sondern die USA in ihren Grundfesten.

Gleichzeitig ruft Lipstadt zur Mäßigung auf, weist die rechtliche Verurteilung von Antisemitismus und der Boykott-Aufrufe der BDS1-Bewegung gegenüber Israel als falsches Mittel zurück und bevorzugt Argumente anstelle von Taten. Für diese und ähnliche Aussagen ist die Autorin kritisiert worden. Durch den siegreichen Prozess gegen den Holocaustleugner David Irving wurde sie weltweit bekannt – gleichzeitig spricht sie sich vehement gegen Verbotsgesetze aus. Darüber bestehen auch in ihrem Umfeld erhebliche Differenzen. Aber Lipstadt beweist Größe, intellektuelle Weitsicht und einen unerschütterlichen Kampfgeist, der sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht.

Inhaltlich lässt sich wenig Kritisches anmerken. Über längere Strecken arbeitet sich Lipstadt an der Schreibweise des englischen Begriffes für Antisemitismus ab (mit Bindestrich, großgeschrieben, mit Leerzeile), was für deutsche Leser*innen eher belanglos ist. Prinzipiell ist auch die Übersetzung holprig, worunter die Qualität des Werkes leidet. Auch die Tatsache, dass das Inhaltsverzeichnis mit den tatsächlichen Seitenzahlen nicht übereinstimmt, hindert den Lesefluss.

Dennoch legt Deborah Lipstadt ein wichtiges und aktuelles Werk vor. Es sei jedem empfohlen, der Antisemitismus verstehen will – insbesondere auch Einsteiger*innen in das Thema. Lipstadt schreibt einfach und klar und gerade dadurch gewinnt die Darstellung eine große Kraft. Insgesamt präsentiert sie ein mutiges und aufrichtiges Buch.

Anmerkung

1 BDS=Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen

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Gutachten

Samuel Salzborn / Alexandra Kurth
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Wissenschaftliches Gutachten, Januar 2019


Lektüre

Julius H. Schoeps
Düstere Vorahnungen. Deutschlands Juden am Vorabend der Katastrophe (1933–1935)
Leipzig, Hentrich & Hentrich 2018

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