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Thomas Tetzner

Der kollektive Gott. Zur Ideengeschichte des "Neuen Menschen" in Russland

Göttingen: Wallstein Verlag 2013; 399 S.; geb., 39,90 €; ISBN 978-3-8353-1238-8
Diss. Hannover; Begutachtung: M. Buckmiller. – Die Erschaffung eines Übermenschen „gehörte mitnichten zu den Zielen der sowjetischen Politik, weder offiziell noch inoffiziell“ (374). Dennoch sei die revolutionäre Frühgeschichte des sowjetischen Sozialismus ohne die utopische Idee eines „Neuen Menschen“ nicht zu verstehen, schreibt Thomas Tetzner in dieser lesenswerten Studie über ein Phänomen, das nur auf den ersten Blick der Vergangenheit angehört – im Schlusswort finden sich Verweise auf Esoterik und New Age, die lateinamerikanische Befreiungstheologie und vor allem die Potenziale der Gentechnik. Im historischen Längsschnitt zeigt sich die tiefe Verwurzelung dieser Idee vom „Neuen Menschen“ in der Religions‑ und Ideengeschichte. Am Anfang stehen antike Vorstellungen und die christliche Auffassung, nach der der „‚Neue Mensch‘ […] die kommende Einheit aller Menschen und also die göttlich verwirklichte alleinige Menschheit“ (50) bedeutet – im kollektiven Singular. Diese Idee paart sich nach dem morgenländischen Schisma mit der Eigenwahrnehmung Russlands und seiner orthodoxen Kirche als das „Dritte Rom“ (81). Diese Kirche bleibt dabei, ein „konservatives, mystisches, durch keinerlei Scholastik getrübtes Christentum“ (87) zu vertreten und verharrt damit auf der anderen Seite der geistig‑kulturellen Spaltung des Landes, die mit den Reformen Peters I. ab 1698 nicht mehr zu übersehen ist. Russische Intellektuelle versuchen im 18. und 19. Jahrhundert, diese Spaltung zu überwinden – wobei viele von ihnen das russische Volk als eine künftige Elite sehen. Der Schriftsteller Fjodor M. Dostojewski definiert es sogar als einen „latente[n] korporative[n] Messias […]. Das von Russland zu erlösende ‚auserwählte Volk‘ aber ist die ganze Menschheit“ (179). Diesen religiös konnotierten Vorstellungen von einer Weiterentwicklung der Menschheit folgen unter dem Eindruck von Industrialisierung und moderner Medizin Utopien, die den Menschen weniger in Gott, sondern in der Moderne aufheben wollen – bis hin zu dem biopolitischen Ziel, den Menschen der bedürfnislosen Maschine gleichzumachen. In der frühen Sowjetunion aber lehnen sowohl Lenin als auch Stalin diese von der Realität losgelösten und zugleich dem Kommunismus fremden Vorstellungen ab und neutralisieren sie, indem sie sie ideologisch transformieren. Es entsteht ein „Drei‑Stufen‑Modell der übermenschlichen Evolution“: „Proletarier – Sowjetmensch – neuer Mensch“. Damit aber hört der „Neue Mensch“ auf, ein Heilsversprechen zu sein, resümiert Tetzner, er, der in der DDR als sozialistische Persönlichkeit firmiert, ist nur noch der, „der freiwillig den Plan übererfüllt“ (367).
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.625.435.422.252.23 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Thomas Tetzner: Der kollektive Gott. Göttingen: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/253-der-kollektive-gott_43830, veröffentlicht am 30.05.2013. Buch-Nr.: 43830 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken