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Marci Shore

Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa. Aus dem Englischen von Andrea Stumpf

München: C. H. Beck 2013; 375 S.; geb., 26,95 €; ISBN 978-3-406-65455-8
Der Geschmack von Kaviar – Asche hat sie selbst nicht probiert – schien ihr, als sie ihn zum ersten Mal kostete, im Mund zu explodieren. „Beinahe hätte ich mich übergeben. Etwas Abscheulicheres hatte ich nie geschmeckt“ (258), schreibt Marci Shore. Liest man fast gegen Ende des Buches von dieser völlig überzogenen Reaktion der US‑amerikanischen Wissenschaftlerin auf ein paar Fischeier, ist man geneigt, diese als Metapher für ihre Sicht auf „Osteuropa“ zu verstehen – zumal sie 25 Jahre nach dem Sturz des Kommunismus mit „Osteuropa“ hauptsächlich die beiden EU‑Mitgliedsländer Polen und Tschechien meint. Auch führt der anspruchsvolle Untertitel ebenso wie das im Vorwort formulierte Interesse der Autorin – „Ich wollte erfahren, wie die Philosophen [1989] an die Macht kamen und das Volk befreit wurde“ (9) – in die Irre, sollte man nun eine wissenschaftliche Analyse der Bewältigung des Kommunismus erwarten. Tatsächlich aber hat Shore, wie sie dann endlich im Nachwort schreibt, „ein zutiefst subjektives Buch“ (363) über ihre persönlichen Erlebnisse und Einsichten während mehrerer Arbeits‑ und Forschungsaufenthalte in beiden Ländern, ergänzt durch Reisen in die Slowakei, nach Rumänien und Russland, verfasst. Vor allem der Teil über ihre Zeit in Prag und in einer kleineren tschechischen Stadt in den 1990er‑Jahren ist zwar lebendig geschrieben, man erfährt durchaus, wie die Menschen „ticken“. Aber je weiter man in der Lektüre vorankommt, desto mehr fällt auf, wie unsystematisch und mosaikhaft die Schilderungen sind – und damit wenig aussagekräftig für das etwaige „Nachleben des Totalitarismus“. Weite Abschnitte über Polen sind zudem verengt auf das Verhältnis von Judentum und Kommunismus, angelehnt an das Dissertationsthema der Autorin („Caviar and Ashes“, Yale 2006); das wichtige Thema aber der Aufarbeitung geheimdienstlicher Tätigkeiten wird nur mit Schlaglichtern erhellt. Störend sind außerdem einige Redundanzen vor allem in den Personenbeschreibungen. Ein gründlicheres Lektorat hätte vielleicht auch die mitunter sehr bunt durcheinander auftretenden Protagonisten ein wenig zur Ordnung gerufen. Insgesamt scheitert das Vorhaben der Autorin, „Osteuropa“ zu erklären, daran, dass sie fast nur verarbeitet, was sie selbst gesehen und gehört hat – eine echte Zeitzeugin des Umbruchs aber ist sie gerade nicht. Man hätte sich also stattdessen eine Studie etwa nach dem Vorbild der Bücher des von Shore bewunderten Jan Gross (siehe Buch‑Nr. 17872 und 42597) gewünscht, versteht er es doch, wie sie richtig schreibt, „Geschichtsschreibung [und] moralische Reflexion“ (331) miteinander zu verbinden.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.61 | 2.2 | 2.23 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Marci Shore: Der Geschmack von Asche. München: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36989-der-geschmack-von-asche_45431, veröffentlicht am 17.04.2014. Buch-Nr.: 45431 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken