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Alexander Thiele: Der gefräßige Leviathan. Entstehung, Ausbreitung und Zukunft des modernen Staates

23.04.2021
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Autorenprofil
Dr. Michael Kolkmann
Tübingen, Mohr Siebeck 2019

Alexander Thiele analysiert die verschiedenen Phasen der Entstehung des modernen Staates, benennt seine Merkmale und berichtet über dessen Ausbreitung in der Welt. Staatlichkeit habe sich schon immer im Wandel befunden, dieser sollte als Chance gesehen werden. Das, wie Rezensent Michael Kolkmann schreibt, lesenswerte Buch durchziehe die Überzeugung, „dass Staatlichkeit ein Werden, ein Verändern, kein bloßes Sein ist“. Es komme auf die Bürger*innen an, diesen Prozess in die gewünschte Richtung zu lenken. Thiele spricht sich für die Schaffung eines „denationalisierten demokratischen Verfassungsstaates“ aus.

Eine Rezension von Michael Kolkmann

„Der Begriff des Staates ist heute so gebräuchlich, dass seine Ursprünge regelmäßig nicht mehr hinterfragt werden“. Dieses Zitat aus der „Allgemeinen Staatslehre“ von Burkhard Schöbener und Matthias Knauff greift der Göttinger Rechtswissenschaftler Alexander Thiele gleich auf der ersten Seite seines Buches „Der gefräßige Leviathan“ auf. Literatur über den modernen Staat gibt es in großer Zahl und Bandbreite. Warum es trotzdem ein weiteres Werk zum Thema gibt, ja: geben muss, begründet Thiele gleich anschließend: „Nicht erst seit der Flüchtlingskrise stehen Fragen der Staatlichkeit wieder im Zentrum nicht nur der politischen Debatte. Diese Untersuchung will zu dieser Diskussion beitragen und mit dem Konzept des ‚denationalisierten demokratischen Verfassungsstaates‘ zugleich ein Modell vorschlagen, wie moderne Staatlichkeit zukünftig gestaltet werden könnte“ (V). So sehr Thiele im Verlaufe seiner Argumentation auch auf die einzelnen Aspekte der Entstehung des modernen Staates eingeht, offenbar wird auch: Hier handelt es sich um ein Sujet, das stets äußerst wandelbar war und bleiben wird. Der titelgebende „Leviathan“, ein biblisches Seeungeheuer, das bereits Thomas Hobbes im Jahre 1651 als Symbol für die Allmacht des Staates nutzte, ist dabei ein Verweis auf gerade diesen modernen Staat.


Entstanden ist am Ende ein trotz der insgesamt 362 Seiten doch handliches Taschenbuch. Sicher im Urteil und angenehm meinungsfreudig dort, wo es sich anbietet, bewegt sich Thiele durch die einzelnen Facetten seines Untersuchungsgegenstandes, bei dem er angesichts der inhaltlichen wie definitorischen Breite des Themas stets auf dessen zentrale Bestimmungsfaktoren rekurriert. Damit weitet Thiele den Blick auf grundsätzliche Aspekte der rechts- wie der politikwissenschaftlichen Diskussion.


Im ersten Kapitel stehen Entstehung und Merkmale des modernen Staates im Mittelpunkt. Neben der „Zäsur der europäischen Neuzeit“, die sich unter dem Schlagwort „Vom Glauben zum Verstand“ (16) zusammenfassen lässt, geht Thiele an dieser Stelle insbesondere auf die historischen Wesensmerkmale des modernen Staates ein. Hierzu gehören die Zentralisierung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die Säkularisierung bei gleichzeitiger Konfessionalisierung, die territoriale Abgrenzung und Entpersonalisierung von Herrschaft, die Gestaltung des Politischen durch Gesetzgebung, die Ausbildung einer zentralen Bürokratie, die Errichtung eines stehenden Heeres, eine umfassende Steuerfinanzierung und die Zentralstellung der Frage danach, wer zum Staatsvolk gehört (vgl. 44-108).


Im zweiten Kapitel wendet sich der Autor der Ausbreitung des modernen Staates in der Welt zu (vgl. 109-210). Von Osteuropa aus geht Thiele mit Nord- und Südamerika, Asien, Australien und Neuseeland und schließlich Afrika die einzelnen Kontinente durch. Diese Passagen sind sehr ausführlich, detailliert und kenntnisreich ausgefallen. Hier wird eine Fülle an empirischen Befunden präsentiert, die gut formuliert und stets prägnant auf den Punkt gebracht werden.


Das dritte Kapitel nähert sich dem Nexus von Nationalstaat und demokratischem Verfassungsstaat. Bei Letzterem stehen neben dessen Entstehung und Ausbreitung vor allem seine Merkmale im Mittelpunkt: das Konzept der (Nicht-)Volkssouveränität, der Vorrang der Verfassung, der Ausgang der Staatsgewalt vom (konstituierten) Volk, die Gewaltenteilung sowie der „Raum der Dunkelheit“ (vgl. 211-265). Mit diesem Raum ist jener Bereich in einem demokratischen Gemeinwesen gemeint, der den Blicken des Staates, genauer: der Mehrheitsentscheidung, entzogen ist: „Fragen der Familienplanung, des privaten Umgangs oder der Freizeitgestaltung sind durch demokratische Mehrheitsentscheidung nicht gestaltbar, weil solchen Entscheidungen letztlich die Gefolgschaft verweigert werden würde und das gesamte politische System seine Legitimität riskierte“ (263).


Eine Erörterung der Zukunft des modernen Staates folgt in Kapitel vier, in dem Thiele seiner Überzeugung Ausdruck verleiht, „dass die Nationsidee nicht ersatzlos gestrichen werden kann“ (288), denn auch im demokratischen Verfassungsstaat komme dieser „mit der Sicherstellung der notwendigen Zusammengehörigkeit der Bürgerinnen und Bürger und der Abgrenzung von anderen Nationen eine bedeutende Funktion zu“ (ebenda; vgl. grundsätzlich 267-321).


Das Buch schließt mit einem Ausblick, der den staatlichen Wandel als Chance begreift (vgl. 323-325). Leider ist dieser Abschnitt mit zweieinhalb Seiten sehr knapp ausgefallen. Als interessierter Leser hätte man (nicht nur an dieser Stelle) gerne noch weitergelesen. Man darf sich jedoch auf mehr zukünftige Lektüre freuen, handelt es sich bei diesem Buch doch quasi um eine Vorab-Publikation aus einem größeren Projekt zur „Allgemeinen Staatslehre“, das, wie der Verfasser schreibt, zwar bereits konzipiert, aber zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des „gefräßigen Leviathans“ noch nicht abgeschlossen ist. Bis es soweit ist, lädt in diesem Band ein ausführliches Quellenverzeichnis zum Weiterlesen ein.


Trotz aller historischen wie aktuellen Gefahren und Herausforderungen zeigt sich Thiele am Ende seines Buches optimistisch, eine Grundeinstellung, die er bereits in der Einleitung andeutet: „Verantwortungsvoller Optimismus bleibt das Gebot der Stunde“ (10). Dennoch betont er, dass die liberalen Demokratien heute „an einer Art Scheideweg“ stehen, denn wie er herausgearbeitet hat, „sind solche Veränderungen in der Struktur des modernen Staates historisch keine Ausnahme. Staatlichkeit befindet sich seit jeher im Wandel und wird das auch weiterhin tun. Dabei ist aber zu beachten, dass dieser Wandel nicht völlig unverhofft über die demokratischen Gesellschaften hereinbricht, sondern in diesen ihren Ausgangspunkt findet“. Wie sich Staatlichkeit entwickele, wie es um die Grundrechte stehe und wie der Staat mit Flüchtlingen umgehe, sei „immer auch ein Spiegel dieser gesellschaftlichen Verhältnisse“. Dies identifiziert Thiele als positive Nachricht: „Denn auch der Wandel der Staatlichkeit lässt sich damit durch die Gesellschaft steuern und gestalten, oder anders gewendet: Wir können nicht nur darüber entscheiden, wie wir generell miteinander umgehen wollen, sondern auch, welche Form der Staatlichkeit wir bevorzugen und uns dafür einsetzen, diese auch zu erhalten“. Und er ergänzt: „Andererseits heißt das aber auch, dass es ohne einen solchen Einsatz eher unwahrscheinlich ist, dass sich Staatlichkeit ausgerechnet in unserem Sinne wandelt. Auch scheinbar gefestigte demokratische Verfassungsstaaten können sich in einer Weise verändern, die uns nicht behagt; die Auswirkungen solcher Veränderungen sind aber häufig nur sehr schwer wieder zu beseitigen“ (324).


Besonders hervorzuheben ist, dass es Thiele gelingt, immer wieder aktuelle Entwicklungen zu berücksichtigen, etwa die amerikanische „America first“-Politik unter Präsident Donald Trump, die Brexit-Entscheidung in Großbritannien, aber auch aktuelle Entwicklungen in Ländern wie Indien, Polen oder Ungarn. Der im Buch präsentierte Vorschlag eines denationalisierten demokratischen Verfassungsstaates versteht sich vornehmlich als Impulsgeber für weiterführende Debatten und „will vor allem zeigen, dass der ‚populistische Moment‘, den Chantal Mouffe beschreibt, tatsächlich eine Chance für einen positiven Wandel bietet – fatalistische Untergangsszenarien helfen kaum weiter“ (325).


Damit bringt Thiele abschließend auf den Punkt, was das gesamte, überaus lesenswerte Buch durchzieht: die Überzeugung, dass Staatlichkeit ein Werden, ein Verändern, kein bloßes Sein ist. Und dass es auf die Bürgerinnen und Bürger ankommt, diesen Prozess in die gewünschte Richtung zu lenken.


So sehr auch in manchen Passagen der rechtswissenschaftliche Zugang überwiegen mag, stets finden sich Anknüpfungspunkte zu Nachbardisziplinen, insbesondere der Politikwissenschaft. Virtuos bezieht Thiele relevante und aktuelle Autorinnen und Autoren in seine Argumentation ein und zeigt sich jederzeit auf der Höhe der Fachdiskussion. Kurz: Das Buch überzeugt durch eine frische Sprache, einen direkten und teilweise unkonventionellen Zugang zum Thema und eine weitgehend eigenständige Argumentation, die Lust auf mehr macht. Für alle, die weiterlesen möchten, sei der Hinweis gestattet, dass vom selben Autor im Frühjahr 2021 unter dem Titel „Der konstituierte Staat“ eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit erschienen ist.

 

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Weiterführender Link

Alexander Thiele

Frankfurt a. M., Campus 2021

 

Externe Veröffentlichungen

Alexander Thiele / 03.10.2020

Verfassungsblog

 

Alexander Thiele

Georg-August-Universität Göttingen (Podcast) 

 

Annette Wilmes / 11.03.2019

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