Das Verhältnis von Staat und Kirche in der Orthodoxie
In den meisten Staaten, die zur Sowjetunion oder zu deren Einflussbereich gehörten, hat das religiöse Leben nach dem Zusammenbruch des Imperiums eine Aufwertung erfahren und den Schritt aus dem Schattendasein ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit getan. Staats- und Regierungschefs zeigen sich wieder gern mit Vertretern der Kirche und es scheint, als hätte der Sozialismus und der verordnete Atheismus den bis auf Wladimir I. zurückreichenden christlichen Traditionen nichts anhaben können. Tatsächlich hat das rote Zeitalter jedoch tiefe Spuren hinterlassen, sodass trotz der statistisch gestiegenen Zahl an Gläubigen nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Bevölkerung den orthodoxen Ritus wirklich lebt. In ihren Tagungsbeiträgen beschäftigen sich Gerd Stricker, Theodor Nikolaou, Konstantin Kostjuk und Otto Luchterhandt mit dem Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der Orthodoxie, mit der Sozialdoktrin ihres russischen Ablegers sowie mit dem Stellenwert der Menschenrechte. Da sich in der Orthodoxie alle Menschenwürde aus der Religion ableitet, steht die Kirche, die in der Menschenrechtsthematik eine religiöse Gegendoktrin erkennt, vor ungeheuren Herausforderungen. Gleiches gilt für das Diakonische Werk, das sich bisher weniger den sozialen als vielmehr den seelsorgerischen Fragen annimmt. Dass neben den Beiträgen der Redner auch die anschließenden Diskussionsrunden in dem Band schriftlich fixiert wurden, erweitert das thematische Spektrum und dokumentiert die Lebendigkeit der Veranstaltung. Dabei wird deutlich, dass beispielsweise die Frage nach der Verortung der Orthodoxie zwischen Cäsaropapismus, Papocäsarismus und Synallelie einen Hiatus aufzeigt, der dem zwischen „Verfassung“ und „Verfassungswirklichkeit“ ähnelt. Viele Fragen, etwa nach dem Stellenwert der Eschatologie oder nach der Existenz eines orthodoxen Staatsverständnisses, können aufgrund des Tagungscharakters nur angerissen werden. Dafür eröffnen die Herausgeber dem interessierten Leser jedoch ein umfangreiches Verzeichnis mit weiterführender Literatur.