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Bettina Nehmer

Das Problem der Ahndung von Einsatzgruppenverbrechen durch die bundesdeutsche Justiz

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2015 (Beiträge zur Aufarbeitung der NS-Herrschaft 4); 130 S.; geb., 29,95 €; ISBN 978-3-631-66481-0
Die sogenannten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD) waren im Zweiten Weltkrieg wesentlich an deutschen Massenvernichtungsverbrechen in Polen, auf dem Balkan und in der Sowjetunion beteiligt. Bettina Nehmer beobachtet, dass die Beteiligten nach dem Krieg von bundesdeutschen Gerichten eher mit Milde bedacht wurden. Viele seien nur als „Gehilfen“ statt als „Täter“ verurteilt worden, da die Richter bei ihnen kein persönliches Interesse an den Taten hätten erkennen wollen. Die Autorin beschäftigt sich in ihrer Studie mit dieser Nachsicht mit den „Einsatzgruppenverbrecher[n]“ (7) und beschreibt anhand von Fallbeispielen, wie die milden Urteile juristisch begründet und legitimiert wurden. Nach einer historischen Einordnung der Einsatzgruppen und ihrer Taten erläutert Nehmer die erste juristische Aufarbeitung der Geschehnisse vor dem amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg. Im Gegensatz zu den deutschen Gerichten habe dieser ausnahmslos strenge Urteile verhängt: Alle angeklagten Einsatzgruppenmitglieder seien als Täter angesehen und teils zum Tode verurteilt worden. Der Fokus der Arbeit liegt aber auf den späteren Prozessen vor deutschen Gerichten. Eine wichtige Rolle bei der juristischen Analyse der Prozesse und Urteile spielt Nehmer zufolge die theoretische Fundierung der Abgrenzung von Täterschaft und Beihilfe. Als Beispiel untersucht sie unter anderem den Prozess gegen Carl Zenner, der als ranghöchster „Führer der Sicherheitspolizei und des SD“ in Minsk „absolute Befehlsgewalt“ (81) gehabt habe und direkt für die Ermordung russischer Juden verantwortlich gewesen sei. Trotzdem sei er nur wegen Beihilfe belangt worden. Das Gericht habe nur Hitler, Heydrich und andere Naziführer als Täter angesehen. Es habe Zenner zwar als Unterstützer des Nationalsozialismus eingeordnet, ihm sei aber kein eigener Täterwillen attestiert worden. Es sei „der Einlassung Zenners, dass er die Vernichtung der Juden nicht gebilligt und ihr ablehnend gegenüber gestanden habe“ (84), schließlich gefolgt worden. Nehmer sieht als eine Ursache für die von ihr dargelegte juristische Schonung von NS‑Tätern die in der Nachkriegszeit weitverbreitete Tendenz, die Vergangenheit zu verdrängen. Zudem habe eine Vorstellung des NS‑Staates dominiert, in der die Bürger nur als von der Elite „fremdgesteuerte Statisten“ (123) ohne eigenen Willen und damit ohne wirkliche Schuld gesehen worden seien.
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Rubrizierung: 2.352.3232.312 Empfohlene Zitierweise: Wolfgang Denzler, Rezension zu: Bettina Nehmer: Das Problem der Ahndung von Einsatzgruppenverbrechen durch die bundesdeutsche Justiz Frankfurt a. M. u. a.: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39232-das-problem-der-ahndung-von-einsatzgruppenverbrechen-durch-die-bundesdeutsche-justiz_47671, veröffentlicht am 07.01.2016. Buch-Nr.: 47671 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken