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Hugh Kennedy: Das Kalifat. Von Mohammeds Tod bis zum "Islamischen Staat"

16.11.2017
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
München, C. H. Beck 2017

Nicht erst mit der Ausrufung des Kalifates durch die Terrororganisation Islamischer Staat im Jahr 2014 stellt das Kalifat den politischen Traum islamistischer Programmatik dar. Als der letzte osmanische Kalif 1924 abdankte, waren moderne, westliche Ideen in der islamischen Welt und bei der Mehrheit der Muslime prominenter. Mit dem gefühlten Versagen des republikanischen, sozialistischen und auch bisweilen demokratischen Ideals jedoch gewann das Kalifat, das mit seinen Lichtgestalten, den vier rechtgeleiteten Kalifen aus der Epoche der islamischen Expansion, an ein goldenes Zeitalter des Islam erinnerte, wieder an Prominenz.

Vor diesem Hintergrund ist Hugh Kennedys Buch natürlich von politischer und gesellschaftlicher Relevanz, auch wenn der Londoner Islamwissenschaftler eben kein politisches Buch schreiben will – das macht es in der heutigen Zeit umso wertvoller. Im Kern behandelt Kennedy die drei zentralen Fragen der Kalifatsidee und deren Entwicklung durch die islamische Geschichte: Wer kann Kalif werden? Wie wird ein Kalif gewählt? Welche Machtfülle hat ein Kalif?

Soviel gleich vorweg: Auf jede Frage bietet die islamische Geschichte die unterschiedlichsten Antworten und belegt damit eindrucksvoll, dass es weder den einen „wahren“ Islam noch die eine allgemein anerkannte Idee des Kalifats gibt. Diese Vorstellung verbindet heute zwar Islamisten, Islamkritiker und um Political Correctness bemühte Politiker, lässt sich aber historisch eben nicht halten.

In der Realität haben mehr als 100 Kalifen auch fast ebenso viele Vorstellungen und Ausprägungen des Kalifats gelebt und propagiert – häufige Gegenkalifate nicht mitgerechnet. Gemeinsam war allen lediglich die Idee, dass eine gerechte islamische Herrschaft das Ziel verfolgen müsse, den Willen Gottes umzusetzen – doch bereits bei der Frage, wie dieser Wille zu ergründen sei und welche Maßnahmen seiner Durchsetzung dienlich seien, waren die Vorstellungen wieder sehr divers.

Dabei bildete das islamische Kalifat als eine der mächtigsten Organisationen über lange Jahre die Spitze der fortschrittlichsten Gemeinwesen der Welt. Gerade das abbasidische Kalifat von Bagdad regierte aus einer Millionenmetropole ein riesiges Reich mit Beamten, die schreiben und lesen konnten, während Europa noch im dunklen Mittelalter gefangen war.

In seinen Schilderungen geht Kennedy auch explizit auf eines der Grundprobleme des Islam ein: Da Muhammad bei seinem Tod kein politisches Testament hinterlassen hatte, entstanden naturgemäß verschiedene Auffassungen darüber, wie das frühislamische Gemeinwesen, das religiöse und politische Führung in der Person des Kalifen vereinte, weitergeführt werden sollte. Während die Familie des Propheten darauf bestand, dass nur ein Blutsverwandter Muhammads ihm folgen könne und entsprechend auch absolute Autorität verdiene, schreckten die meisten Prophetengefährten vor der Gründung einer Dynastie zurück und wollten, gemäß der arabischen Stammestradition, ihren Führer selbst aus den Reihen des Großclans der Quraisch, denen auch Muhammad angehörte, wählen. Aus diesen zunächst rein politischen Gegensätzen entstand schnell eine fast 200-jährige Phase ständiger Bürgerkriege und die Umwidmung des politischen Führungsanspruches des Prophetenhauses in die islamische Konfession des Schiismus. Eine dritte, aus den Wirren des Bürgerkrieges geborene Position hingegen betonte, dass jeder Mann Kalif werden könne, wenn er denn nur wahrhaft gläubig sei, und schreckte zur Durchsetzung dieser Überzeugung auch vor Terrorismus nicht zurück. Dass eine Frau Kalif werden könne, kam allerdings für keine der Gruppen infrage.

Den frühen Bürgerkriegen verdanken wir auch die Entstehung des Konzepts der Verketzerung, takfir, das notwendig war, um innerislamische Bürgerkriege zu legitimieren. Der immer wieder auftauchenden Behauptung, die islamische Einheit sei durch die Kreuzzüge oder die Kolonialzeit zerbrochen, muss hier entschieden widersprochen werden. Diese Einheit endete spätestens, als 656 bei Basra das erste Mal zwei Heere unter dem Banner des Islam aufeinandertrafen.

Der Autor zeichnet ein großes Bild von Siegen, prächtiger Machtentfaltung und einem schleichenden Niedergang der unterschiedlichen Kalifate. Er ergänzt seine Abhandlung durch geografische Karten und Zeittafeln, die dem Laien helfen, Ordnung in die Fülle an Informationen zu bringen.

Kennedy ist es gelungen, ein wichtiges und politisch brandaktuelles Buch zu schreiben, ohne der Versuchung zu unterliegen, es vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Lage reißerisch werden zu lassen. Er legt eine saubere und an den Quellen orientierte historische Arbeit vor, die aber auch die notwendigen Bezüge zur Gegenwart darstellt und damit eindrücklich belegt, dass das Studium der islamischen Geschichte eine wesentliche Voraussetzung zum Verständnis heutiger Phänomene darstellt.

 

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