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Torsten Oppelland (Hrsg.): Das deutsche Wahlrecht im Spannungsfeld von demokratischer Legitimität und politischer Funktionalität

02.06.2017
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Autorenprofil
PD Dr. Stephan Klecha
Berlin, BWV Berliner Wissenschafts-Verlag 2015

Das System zur Wahl des Deutschen Bundestages bietet seit der letzten Wahlrechtsnovelle den damit verbundenen Wissenschaften reichlich Stoff, um sich ausgiebig mit seinen Schwachstellen auseinanderzusetzen. Mit dem Ausgleich der Überhangmandate, der seit 2013 zur Vermeidung des negativen Stimmgewichts notwendig geworden ist, hat der Gesetzgeber einen Rechenmechanismus implementiert, der einen allgemeinen Unmut bei Politik- wie Rechtswissenschaftler*innen ausgelöst hat. Dabei sind es gar nicht mal vollkommene Unwuchten, Anomalien oder offenkundige Unzulänglichkeiten, die Kopfschütteln auslösen. Es ist mehr der Kompromisscharakter der Reform, der die Probleme erzeugt hat. Das wiederum fordert die Forschung aber nun heraus, es nicht bei der Kritik zu belassen, sondern verlangt ihr gleichsam eine konstruktive Herangehensweise ab.

Diesbezüglich müssen sich die Vertreter der einzelnen Ansätze nun damit auseinandersetzen, welche unterschiedlichen Vorgaben zu erfüllen sind: Der Rechenmechanismus soll dem föderalen Anspruch genügen, den Proporzcharakter wahren und überdies den Wettbewerb nicht behindern. Eine Tagung des Hellmuth-Loening-Zentrums für Staatswissenschaften, die 2014 in Kooperation mit der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung durchgeführt worden ist, hat sich vor diesem Hintergrund der Thematik sehr vielschichtig genähert. Das Kernproblem legt Torsten Oppelland bereits in seinem Vorwort dar – „Wahlrechtsfragen sind Machtfragen“ (5). Diese für Politikwissenschaftler*innen fast schon lapidare Feststellung kann Jurist*innen wiederum schnell schockieren. Nun hat sich beim Thema Wahlrecht eine gewisse transdisziplinäre Herangehensweise durchaus bewährt, weswegen das Nebeneinander der verschiedenen Ansätze meist bereichernd wirkt. Und auch dieser Sammelband ist in seiner Grundanlage durchaus ein Beleg dafür, weil er diese beiden Professionen zusammenzubringen versucht.

Freilich funktioniert es nicht so recht, die unterschiedlichen Ansätze und oft gegensätzlichen Grundlagen wirklich fruchtbar miteinander zu verbinden. Auf der Tagung selbst scheint das etwas besser gelungen zu sein, wie man Oppellands Vorwort entnehmen kann. Dass dieses im Band nun nicht so ganz geglückt ist, wäre allerdings schon der einzige ernste Einwand gegen das Buch. Die Beiträge der Autoren, leider keine einzige Autorin, stehen zwar ein wenig nebeneinander, sie spannen gleichwohl einen breiten analytischen Rahmen auf, dessen Fluchtpunkt eben die Unzufriedenheit mit der letzten Wahlrechtsreform auf Bundesebene ist.

Drei Debattenstränge werden in den Beiträgen entfaltet. Erstens wird der Blick auf die Strukturen gerichtet, die den Rahmen beschreiben, innerhalb dessen Wahlrechtsreformen überhaupt nur möglich sind. Besonders hervorzuheben ist dazu der Beitrag von Florian Grotz. Der Hamburger Politikwissenschaftler analysiert zuerst den Ausgang der Bundestagswahl 2013 entlang der letzten Reformbemühungen. Die damit verbundenen Paradoxien ordnet er sodann drei Handlungslogiken zu. Diese Einordnung nach machtpolitischen Interessen, wertbezogenen Ideen und fortwirkendem institutionellen Status quo beschreibt die Determinanten einer Wahlrechtsreform und damit auch den Spielraum, der für Reformen des Wahlrechts überhaupt gegeben ist.

Während der erste Debattenstrang einen Handlungsspielraum beschreibt, der zwar nicht riesig, wohl aber vorhanden ist, setzt der zweite Debattenstrang die Erwartungen an eine neue Reform schon deutlich herunter. Die dabei eingenommene Position hat einen stärker rechtfertigenden Charakter. Die letzte Reform wird daher zwar nicht für ihre Stringenz gelobt, wohl aber als logische Konsequenz eines Ausgleichs widerstreitender Interessen verstanden. Diesbezüglich besonders interessant ist der Beitrag von Henner Jörg Boehl. Als Ministerialrat im Bundesinnenministerium vollzieht er die eigentümlichen Wendungen, die zur letzten Wahlrechtsreform geführt haben, entlang der Rechtsprechung nach. Boehls Beitrag ist insofern ausgesprochen aufschlussreich, weil er nicht nur den mit Rechts- und Politikwissenschaften betrauten Forscher*innen eine gute Materialgrundlage bietet, sondern auch für die Geschichtswissenschaft aufschlussreich sein dürfte. Zwar hat sich die Bundesregierung als Akteur in den Beratungen seinerzeit eher zurückgehalten, doch am Ende waren es eben wieder die Jurist*innen aus der Bundesverwaltung, die die Debattenstränge in Rechtsnormen gekleidet haben. Und hier scheint eine der sonst kaum bekannten Personen aus dem Räderwerk der Gesetzgebungsarbeit einen wirklich hilfreichen Einblick in seine Gedankenwelt präsentiert zu haben.

Während die beiden erstgenannten Ansätze die jüngste Reform in den Mittelpunkt rücken und dabei eine bestenfalls begrenzte Chance sehen, das Wahlrecht nochmals anzupassen, hat sich der dritte Debattenstrang grundlegenderen Reformvorschlägen verschrieben. Dazu gehören die von Eckhard Jesse schon seit Jahren vorgetragene Forderung nach einer Nebenstimme, um die Sperrklausel zu modifizieren, sowie die von Hans-Jürgen Papier vor allem verfassungsrechtlich dargelegten Zweifel an der Sperrklausel.

Alle drei Ansatzpunkte bieten gerade in ihrer Detailverliebtheit eine Chance, die Debatte in den kommenden Jahren fortzuführen. Gewisse Eigentümlichkeiten im neuen Wahlrecht werden, soviel ist wohl sicher, über kurz oder lang eine Reformdebatte anstoßen. Bis dahin bleibt dann wohl auch etwas Zeit, um weitere wissenschaftliche Disziplinen einzubinden, etwa die Mathematik oder die Geschichtswissenschaft.

 

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