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Angelika Nußberger / Caroline von Gall (Hrsg.)

Bewusstes Erinnern und bewusstes Vergessen. Der juristische Umgang mit der Vergangenheit in den Ländern Mittel- und Osteuropas

Tübingen: Mohr Siebeck 2011 (Jus Internationale et Europaeum 52); 400 S.; 79,- €; ISBN 978-3-16-150862-2
Die mittel- und osteuropäischen Staaten haben im vergangenen Jahrhundert eine Vielzahl an Zäsuren erlebt, ob im russischen Zarenreich oder zugehörig zur Habsburger Doppelmonarchie, als Nationalstaat zwischen den Weltkriegen, gefangen in der kommunistischen Ideologie oder im Kontext der neuen Eigenstaatlichkeit nach 1989/90. Den Veränderungen im politischen System folgte immer auch ein neues Rechtssystem. In den 20 Beiträgen des Sammelbandes wird diese unabänderliche Verknüpfung von Politik und Recht am Beispiel der Vergangenheitsbewältigung in ihrem Facettenreichtum und ihrer Wirkungskraft nachgezeichnet. Als konzeptionelle Grundlage erläutert Angelika Nußberger, dass einer rechtlichen Neuvermessung der Geschichte vielfältige Schranken gesetzt sind. Der gerichtliche Ausgleich von historischem Unrecht scheitere oftmals aufgrund des Rückwirkungsverbots und ähnlichen rechtlichen Bestimmungen. Die Brisanz dessen wird im darauf folgenden Kapitel zum Themenbereich Staatenbildung und Grenzziehung deutlich. Als Fallbeispiele werden die interethnischen Auseinandersetzungen in Zentralasien, die Grenzziehungen im ehemaligen Jugoslawien sowie die Auseinandersetzung um die Grenzen Polens im historischen Vergleich analysiert. Ähnlich vielseitig sind auch die Beiträge im Kapitel über die Minderheitenrechte. Besonders spannend liest sich hierbei der Artikel von Michael Geistlinger über die Umsetzung von kaukasischen Mythen in Recht. So habe der Mythos, der nördliche Kaukasus sei russisch, verhindert, ergebnisoffen und konstruktiv mit dem Politikum Schutz von Minderheiten umzugehen. Auch im Kapitel zur Aufarbeitung der Geschichte mittels Verfassungsrechtsprechung und Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs werden die zuvor skizzierten rechtlichen Schranken beispielreich offengelegt. Die abschließenden Betrachtungen aus rechtswissenschaftlicher Perspektive auf die mittel- und osteuropäischen Erinnerungspolitiken im Kontext juristischer Geschichtspolitik erweisen sich als gelungene Abrundung des interdisziplinären und thematisch komplexen Buches.
Anja Franke-Schwenk (AF)
Dr. des., wiss. Mitarbeiterin, Institut für Sozialwissenschaften (Bereich Politikwissenschaft), Universität Kiel.
Rubrizierung: 2.2 | 2.21 | 2.23 | 2.35 | 4.1 | 4.3 | 4.42 | 2.61 | 2.62 | 2.68 Empfohlene Zitierweise: Anja Franke-Schwenk, Rezension zu: Angelika Nußberger / Caroline von Gall (Hrsg.): Bewusstes Erinnern und bewusstes Vergessen. Tübingen: 2011, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34209-bewusstes-erinnern-und-bewusstes-vergessen_41046, veröffentlicht am 10.11.2011. Buch-Nr.: 41046 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken